Waffenruhe in Falludscha lässt hoffen

70 US-Soldaten und etwa zehnmal so viele Iraker verlieren bei den Kämpfen um die irakische Provinzstadt ihr Leben. Verhandlungen zwischen der provisorischen Regierung, islamischen Führern und Aufständischen sollen die Lage beruhigen

AUS KAIRO KARIM EL-GAWHARY

Am Mittwoch bekam der in Bagdad lebende Ali Hassan einen Anruf von seinem Onkel in Falludscha. Seine beiden Cousins seien bei den Kämpfen zwischen US Marines und irakischen Aufständischen ums Leben gekommen. Er möge zur Beerdigung kommen. Ali machte sich unverzüglich auf den Weg, wurde aber an einer Straßensperre von den US-Soldaten zurückgeschickt. Am folgenden Tag bekam er erneut einen Anruf von seinem Onkel: Seine beiden Verwandten seien inzwischen im Garten begraben worden.

Rafie Issawi, Chef einer der beiden Krankenhäuser von Falludscha, schätzt die Zahl der irakischen Opfer in der Stadt auf mindestens 600, bevor am Freitag ein brüchiger Waffenstillstand vereinbart wurde. Eine Delegation von irakischen Regierungsratsmitgliedern kam in die Stadt, um mit den örtlichen Scheichs und den Aufständischen zu verhandeln. Da der Friedhof wegen der Kämpfe für einen großen Teil der Bevölkerung nicht zugänglich ist, wurden viele Tote auf dem Fußballfeld begraben. Eine nicht bekannte Zahl aber fand ihre letzte Ruhestätte in den Gärten der 200.000 Einwohner zählenden Stadt. Issawi berichtet von außerdem mindestens 1.200 Verletzten in den Krankenhäusern und provisorischen Krankenstationen der Stadt.

Laut Brennan Bryne, einem Oberst der US Marines, handelt es sich sich bei den Toten „zu 95 Prozent um junge Männer im wehrfähigen Alter, die im Kampf gefallen sind“. Die Zahl der Getöteten sei so hoch, weil die Marines gute Arbeit geleistet hätten, fügt er hinzu. Eine Gruppe von fünf internationalen Hilfsorganisationen berichtet hingegen, dass sich unter den 1.200 Verletzten in den Krankenhäusern 243 Frauen und 200 Kinder befänden.

Deren Versorgung erweist sich als schwierig. Es fehle an allem für Operationen Notwendigen, „von Betäubungsmitteln und Sauerstoff bis hin zum Verbandszeug“, schildert der Chef des Roten Halbmondes in Bagdad, Faris Hamid Abdel Karim, die Lage. Einer seiner Mitarbeiter ist vor drei Tagen aus Falludscha zurückgekommen. Der Ort gleiche einer Geisterstadt und viele Menschen hätten Angst, in die Krankenhäuser zu gehen, weil die Marines dort immer wieder vorbeikämen und die Leute befragten, berichtet er. Operiert werde jetzt meist auf den Gängen der provisorisch aufgebauten Krankenstationen.

General Mark Kimmitt, Sprecher des US-Militärs, bezeichnete die Aktionen der US Marines dennoch als „unglaublich präzise“. Tote und verletzte Zivilisten habe es nur gegeben, weil sich die Kämpfer unter sie gemischt hätten.

Zumindest die neue irakische Armee möchte mit der US-Operation „Wachsame Entschlossenheit“ nichts zu tun haben. Ein ganzes Bataillon von 620 Mann verweigerte gestern den Einsatzbefehl in Falludscha. Sie hätten sich nicht gemeldet, „um auf irakische Mitbürger zu schießen“, erläuterten sie ihre Entscheidung gegenüber Generalmajor Paul Eaton. Der weigerte sich, das Ganze als „Meuterei“ zu charakterisieren, und sprach vielmehr von „Problemen in der Kommandostruktur“.

Es ist das erste Mal, dass die US-Militärführung versucht hat, irakische Truppen direkt im Kampf gegen die Guerilla einzusetzen. Das Bataillon stellt ein Viertel der im Aufbau befindlichen irakischen Armee dar. Die ersten Rekruten haben im Januar ihre Ausbildung abgeschlossen.

Die irakischen Verweigerer sind Teil einer großen Solidaritätswelle für Falludscha im Irak. Nach dem Freitagsgebet in der Hassanein-Moschee in Ghazaliya, dem letzten Bagdader Außenbezirk in Richtung Falludscha, haben sich die Betenden geradezu darum gerissen, Flüchtlinge aus der Stadt aufzunehmen. Er habe doch zwei leere Häuser, warum man ihm noch keine Familie zugewiesen habe, beschwert sich ein Gemeindemitglied bei Imam Adnan al-Amari.

Auch Salim Mubarak fand hier vorübergehend Aufnahme. Vergangenen Freitag sammelte er seine Töchter, Schwägerinnen und alle Kinder der Familie ein und folgte mit seinem 19-köpfigen Treck einfach dem Strom der Menschen, der die Stadt verließ. Er ist einer von schätzungsweise 60.000 Menschen, die in den letzten Tagen vor den Kämpfen aus Falludscha geflohen sind. Der 61-Jährige ist offensichtlich noch traumatisiert. „Ich habe auf der Straße viele Verletzte gesehen, bei manchen sahen die Beine aus, als sei eine Kugel darin explodiert, andere haben Knie, als hätte jemand sie mit dem Hammer zertrümmert“, sagt er und bricht in Tränen aus. Salim macht sich Sorgen um seine beiden Söhne, einen Arzt und einen Apotheker. Sie blieben in der Stadt zurück, weil sie dort gebraucht werden. Auch seine Frau wollte nicht weggehen: „Wenn meine Söhne sterben, will ich mit ihnen sterben, bring du die Töchter und Kinder in Sicherheit“, hat sie beim Abschied zu Salim gesagt.

Salim versteht, dass die US-Streitkräfte etwas unternehmen mussten, nachdem vor zwei Wochen ein Mob die Leichen von vier für eine private Sicherheitsfirma tätigen Amerikanern schändete. „Aber das ist eine Supermacht“, wundert er sich, „warum müssen Frauen und Kinder dafür bezahlen, was einer Gruppe von Exsoldaten angetan wurde?“ Als die Amerikaner vor einem Jahr kamen, habe er sie begrüßt, erinnert sich Salim, „aber heute können wir ihre Brutalität nicht einfach ignorieren“.

Er hofft, dass der Waffenstillstand halten und die Verhandlungen zum Erfolg führen werden. Er ist allerdings skeptisch: „Als wir die Stadt verließen, sahen wir, in welcher Stärke die amerikanischen Truppen aufmarschiert sind“, sagt er und fügt hinzu: „Die sind sicher nicht so zahlreich gekommen, um zu verhandeln, sondern, um unsere Stadt zu zerstören.“