stimmen von der straße
: Woran glauben die Berliner?

Im U-Bahnhof Turmstraße sitzt Renate Lange, 55, zusammengekauert in einer Ecke der Vorhalle, um sich vor dem zugigen Wind draußen zu schützen. Sie trägt einen dünnen Mantel und ein schmutziges Kopftuch. Den starren Blick nach vorn gerichtet, verkauft die Kreuzbergerin den Straßenfeger. Ruhig und gelassen antwortet sie auf die Frage. „Ich glaube an die Menschen, die Liebe und die Zukunft.“ Etwas überraschend, wenn man erfährt, dass die ehemalige Bäckereiverkäuferin seit vielen Jahren krank und arbeitslos ist. „Ich habe einen lieben Freund. Wir leben in getrennten Wohnungen.“ Ihr ist klar, dass sie nicht mehr in einem „normalen“ Beruf arbeiten kann. Sie sagt, dass sie dennoch zufrieden ist.

An eine gute Zukunft glaubt Hans Dieter Sproten. Der 52-jährige Deutschlehrer an einer Privatschule in Schöneberg hat relativ spät in seinem Leben eine Familie gegründet und ist Vater einer sechsjährigen Tochter. „Vorher hing ich schon mal ziemlich durch. Ich glaube, dass der Zusammenhalt in einer Familie sehr wichtig ist.“

Familie hat Nathalie, 24, aus Moabit, keine mehr. Sie ist als Waise in einem Heim aufgewachsen. Ihren Nachnamen will sie nicht nennen, sie jobbt als Tänzerin und „Modell“ in einem Club. „Ich glaube daran, dass ich in zehn Jahren oder so meinen eigenen kleinen Laden habe, irgendetwas mit Mode oder so.“

Andreas Papenfuß aus Spandau glaubt an die Kraft und Wirkung von Musik. Der 41-jährige Taxifahrer gerät ins Schwärmen: „Wenn es mir schlecht geht, höre ich zum Beispiel Neil Young oder Bob Dylan. Fast immer bewegt das bei mir was. Ich kann dann alles andere, was mich belastet, vergessen.“ Bei seinen Fahrgästen beobachtet er gelegentlich eine ähnliche Wirkung.

Jürgen Förster ist mit einer kleinen Gruppe Touristen am Alexanderplatz unterwegs. Der 48-Jährige aus Hellersdorf glaubt daran, dass Reisen für ihn sehr wichtig war und ist. „Nur so habe ich andere Kulturen kennengelernt und mehr von fremden Ländern und den Menschen dort verstanden.“ Diesen inspirierenden Erfahrungsaustausch erlebt Förster auch in Berlin: Seit zwei arbeitet er als Stadtführer.

In der „Dicken Wirtin“ am Savignyplatz sitzt Steffen Rüdrich an der Theke. Der 29-jährige Maler und Lackierer aus Pankow trinkt sein Feierabendbier, nachdem er in einer nahe gelegenen Wohnung mehrere Zimmer gestrichen hat. „Ich glaube, dass meine Zukunft im Ausland liegt. Hier hält mich nichts mehr.“ Er spricht von Routine und Eintönigkeit, die er verspürt. „Jeden Tag das Gleiche.“

Inzwischen ist es spät am Nachmittag. Die Frau an der Post in der Bergmannstraße packt ihre Zeitungen in das Seitenfach des Rollstuhls und fährt nach Hause. Ihre Freundin hat die wärmenden Socken doch noch gebracht. „So ganz habe ich den Glauben an die Menschen doch noch nicht verloren“, sagt sie leise. Als sie um die Ecke biegt, ist im Licht der Straßenlaterne der Anflug eines Lächelns zu erkennen. HENRY MATZKA