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Archiv-Artikel

Vom Schwarzwald nach Sibirien

In Deutschland gibt es eh keine Jobs mehr – da hat sich das ZDF eine neue ABM-Maßnahme ausgedacht: Bis zum 23. Juni können sich deutsche Familien für ein dreimonatiges Sibirien-Abenteuer bewerben. „Schwarzwaldhaus 1902“ läßt grüßen

von ULRICH STEWEN

1763: Katharina II. – 2003: Deutsches Fernsehen II. Vor 240 Jahren hat die russische Zarin Verzweifelte und Beladene aus deutschen Landen angeworben, in ihrem Reich zu siedeln und zu arbeiten. Um den bevorstehenden Winter zu überleben, mussten sich die Auswanderer damals im Frühjahr bereits auf den Weg machen, solange die Flüsse nicht vereist waren und am Ziel eine spärliche Ernte eingebracht werden konnte. Die Aussichten schienen dennoch verlockend: „Angekommen an der Grenze / Kriegt man Pass und Reisegeld / Kriegt, am Orte angekommen / Auch ein Haus und ein Stück Feld.“ So sangen die Nachfahren der frühen Auswanderer.

Das ZDF schickt in diesen Tagen Werber aus, deutsche Siedler nach Russland zu locken, um dort ein Winterabenteuer zu bestehen. Und diesmal geht’s direkt nach Sibirien. Die Mainzer wollen im August zwei Familien in ein sibirisches Dorf am Ufer des Baikalsees schicken. Drei Monate lang sollen sie „das elementare Leben jenseits des Urals kennen lernen“. Schwarzwaldhaus auf Sibirisch. Anfang nächsten Jahres strahlt der Sender dann die vierteilige Reihe eines wegweisend neuen Formats aus: „Sibirien-Abenteuer-Erlebnis-Dokumentation“. Titel: „Sternflüstern“ – eine Antwort auf die Herausforderung der ARD, die im vergangenen Jahr die Großstadtfamilie Boro auf eine Zeitreise ins Jahr 1902 schickte, im Markgräflerland einen Kaltwasserhof bewirtschaften ließ und daraus schließlich eine Touristenattraktion à la Schwarzwaldklinik machte.

Leben im Kühlschrank

Mit Retro-Romantik anderer Art setzt das ZDF nun noch eins drauf: weit weg, beängstigend exotisch; Zivilisation ade. Kameras werden die Familien dabei beobachten, wie sie „unter kargen Bedingungen, angewiesen auf die eigene Willensstärke und die Unterstützung durch die angestammten Bewohner“ ihren Alltag meistern. Auf seinen Internetseiten wirbt das ZDF für das Unternehmen, als gelte es, noch jedes Sibirien-Klischee mitzunehmen. Nachdem der Region östlich des Urals herber Reiz und tiefe Seele bescheinigt werden, darf die Frage nicht länger ungestellt bleiben: „Können moderne Westeuropäer in Sibirien leben?“ Man weiß ja, hier währt der Winter neun Monate und die Kälte ist klirrend. Und wie allerorten in Sibirien wird das noch nicht genannte Baikal-Dorf zwar „malerisch“ sein, doch zugleich „verloren in der Weite der Taiga“.

Mainzer Pioniergeist

Dem ZDF ist die Tollkühnheit des eigenen Plans nicht verborgen geblieben, denn „die Lebenswelt der Menschen hier ist uns völlig fremd“. Allein in den Mainzer Redaktionen herrscht wie bei keinem anderen Sender der Republik Pioniergeist: „Das ZDF will es wagen.“ Für die Sibirien-Offensive werden demnächst die beiden Familien ausgewählt, deren schwerste Prüfung wohl schon bestanden ist, wenn ihnen der ZDF-Appell nicht das Herz in die Hose rutschen lässt: „Lassen Sie Ihren Alltag hinter sich und entdecken Sie mit uns das Abenteuer!“ Hier ist Todesverachtung gefragt oder, um es mit der schockierenden Offenheit des ZDF zu sagen: „Der fremde Alltag dort wird mit Sicherheit nicht einfach für Sie werden.“

Die beiden Familien sollen in den drei Monaten ihres Aufenthalts das Gleiche tun wie ihre einheimischen Nachbarn: ernten, melken, Schafe scheren. Weil sie vom Dorfalltag am Baikalsee keine blasse Ahnung haben, werden sie den übrigen Bewohnern wohl gehörig auf die Nerven gehen. Das liest sich beim Sender mit der Lizenz zur Völkerfreundschaft so: „Längerfristig werden sich Beziehungen entwickeln – zu anderen Familien und bestimmten Menschen im Dorf.“ Und weil die Einheimischen vermutlich ebenfalls ortsfremd sind und der Dorfalltag bekanntlich viel Freizeit lässt, wird man „gemeinsam die Gegend entdecken“. Nach dem Entdecken gibt es dann „Geburtstagsfeiern, Beerdigungen, Hochzeiten im Dorf“, typisch sibirischen Frohsinn eben, „wenn sie sich auf eine ebenso fremde wie faszinierende Lebenswelt einlassen“.

Damit das Missgeschick einer Beerdigung nicht jemanden aus den deutschen Sibirien-Abenteuer-Erlebnis-Familien trifft, ist vorgesorgt: Notarzt, Hubschrauber, Satellitentelefon. So viel Zivilisation muss sein, damit aus dem geplanten Vierteiler nicht unversehens ein Zweiteiler wird.