FRANZA ZELLER über die Berliner Problemkieze

Die Attacke der Halbgebildeten

Die lebensgefährliche Attacke auf Mustafa Reichel, den Leiter von „NachBildung“, einer EU-geförderten Einrichtung, die erwachsene Bildungsversager zu Berufsabschlüssen führt, zöge vorerst keine politischen Konsequenzen nach sich, meinen Vertreter der Europäischen Union in Brüssel. Wie berichtet, war Reichel vom 45 Jahre alten Jusof U. mit einem Messer attackiert worden. Er sei nicht bereit, sich in seinem Alter von diesen Lackaffen nachbilden zu lassen. Er sei ohne Schulabschluss durchs Leben gekommen und er hätte vor, dies auch weiter so zu tun, habe er später der Polizei zu Protokoll gegeben. Als Reichel ihm die Kursbestätigung verweigerte, da er nie anwesend war, habe er sie sich eben holen wollen.

Reichel ist für die Halbgebildeten im Wedding rund um den Gesundbrunnen zuständig. Dort ist die Zahl der Semiilliteraten, die weder in ihrer Muttersprache noch auf Deutsch richtig lesen und schreiben können und zudem weder Schul- noch Berufsabschluss vorweisen, höher als in ganz Deutschland. Für das Jahr 2003 gelten folgende Quoten im dortigen Kiez: Circa 40 Prozent aller Hauptschüler und etwa 10 Prozent aller Hauptschülerinnen haben die Schule abgebrochen. Viel zu lang haben die Lokalpolitiker vor allem in den Großstädten dieses Problem schleifen lassen, meinen die Abgeordneten in Brüssel.

Seit in der EU enormer Arbeitskräftemangel im niederen Dienstleistungssektor herrscht, sind die Halbgebildeten ins Blickfeld geraten. Die Brüsseler Arbeitsverordnung von letztem Jahr will, dass Länder staatliche Beihilfen zum Lebensunterhalt nur noch dann zahlen, wenn Nachweise über nachgeholte Schul- und Berufsabschlüsse vorliegen. Die praktische Umsetzung der Verordnung gestaltet sich schwierig. In Frankreichs Vorstädten sind beim Versuch, sie rigoros durchzusetzen, bereits drei Todesopfer zu beklagen. Anders als etwa in Paris leben die Halbgebildeten in Berlin nicht in Banlieues, sondern in der Innenstadt. Vor allem im Wedding, Moabit und Neukölln.

Sergej Öger wohnt in der Pankstraße und ist ein Freund von Jusof U. Wie dieser sieht er nicht ein, warum er jetzt mit über 40 noch mal zur Schule gehen soll. „Penne brauch ich nicht.“ Und Arbeit? „Soll ich für die Deppen malochen? Ich mach schon hier im Kiez. Geht keinen was an.“

Sergej Öger irrt. Nach seinem letzten Verkehrsunfall mit Schwerverletzten, den er verursachte, wurde er vom Gericht sogar zur „Nachbildung“ verurteilt. Hauptschulniveau muss er nachweisen, dann wird er zum Entsorger in der biomedizinischen Abteilung des Virchow-Krankenhaus weitergebildet, sonst muss er ins Gefängnis. „Ich soll da so ’ne Missgeburten oder amputierte Beine und so nach Wiederverwertbarkeit sortieren. Nicht mit mir“, sagt er entschlossen.

Nicole Ugurte, die Vorsitzende von NBD, des Trägervereins aller Nachbildungseinrichtungen in Deutschland, ist skeptisch, was die Situation in Berlin angeht. Bisher sind dort mehr Probleme als Erfolge aufzuweisen, obwohl man, anders als in Frankreich, weniger auf radikale Umsetzung setzt, sondern auf individuelle Überzeugungsarbeit. Auch Gewalttätigkeit werde vielfach noch dadurch abgefangen, dass alle Lehrer, die im Wedding und Neukölln eingesetzt werden, Kampfsport- und Therapieerfahrung haben müssen und die Schüler vor dem Unterricht durchsucht würden. Gravierend aber sei, dass nun offensichtlich werde, was Wissenschaftler schon seit Jahren sagen: Halbwissen fördert totalitäres Denken. „Innerhalb ihrer Communitys haben Leute wie Jusof U. das Sagen. Ihr Wort gilt und sonst keins. Die Erniedrigung, die die Schule deshalb für sie bedeutet, werden sie niemals hinnehmen.“