: Leben ohne Heim, Schutz und Geld
Frauenschicksale, die in Obdachlosigkeit endeten, treffen beim Hamburger Projekt Kemenate aufeinander. Oft sind gescheiterte Beziehungen am sozialen Abstieg schuld. Und auch die Männer in der Szene gehen mit Frauen ruppig um
von CHRISTINE KEILHOLZ
Ihr sieht man ihre Lebensumstände tatsächlich nicht an. Birgit ist 45, geschmackvoll, fast elegant gekleidet, trägt sorgfältiges Make-Up und ein paar Schmuckstücke. Noch bis vor einem halben Jahr wohnte sie in gesicherten Umständen in Wiesbaden, war sogar recht wohlhabend. Von einem Tag auf den anderen stand Birgit ohne alles da. Grund dafür war, erzählt sie, eine über zwei Jahre dauernde „heftige Trennung“ von ihrem Mann und ihrem 13-jährigen Sohn.
Zum Jahreswechsel 2002 kam sie nach Hamburg. Der Mann, den sie bei einer Silvesterparty kennen lernte, überredete sie, ihre Brücken in Wiesbaden abzubrechen. „Da habe ich nicht lange überlegt, habe meinen Krempel eingelagert und bin hergekommen.“ Die neue Beziehung endete, als sie erfuhr, dass er Frau und Kinder hat. Sie selbst sei einfach zu realistisch, um sich da lange etwas vorzumachen.
Nachdem Birgit wegen haltloser Beschuldigungen ihres Mannes sieben Wochen im Hamburger Untersuchungsgefängnis verbracht hatte, blieb ihr die Bahnhofsmission als letzte Zuflucht. Von den Menschen, mit denen sie dort zusammentraf, erfuhr sie, wie man auch in einer Stadt wie Hamburg ohne einen Euro auskommen kann. „Jeder von ihnen hat sein Schicksal. Man versteht und hilft sich gegenseitig.“
Nach wenigen Wochen musste Birgit die Mission verlassen und lebt seitdem in einer Pension in St. Pauli. Den Kontakt zu einigen alten Freunden hat sie aufrechterhalten – diese wüssten, unter welchen Umständen sie derzeit lebt. „Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Aber wie es zu alldem kam, erzähle ich erst, wenn die Scheidung durch ist.“ Dann, so ist Birgit überzeugt, kann sie ihr gewohntes Leben wieder aufnehmen. Aber der Familie verschweigt sie ihre Situation. Dies sei ein Milieu, das sich weitab von deren Bewusstseinsumfeld befinde. Für Birgit selbst ist es bisweilen deprimierend zu sehen, mit welchem Habitus ihr als Hilfebedürftiger entgegengetreten wird. „Es kommt mir vor, als hätte ich meine Rechte bei Antritt der U-Haft abgegeben.“
Die Position des Nachteils gegenüber jedem ist scheinbar eine unvermeidliche Folge des Lebens ohne Heim, Eigentum und sozialen Schutz. Gerade obdachlosen Frauen verlangt diese Unterlegenheit eine Menge ab. So lange es irgendwie geht, versuchen sie den Schein eines normalen Lebens aufrechtzuerhalten, weiß Sozialarbeiterin Simone Bungarten. „Sie brauchen jede Menge Kampfgeist und Ausdauer, gerade wenn es um die Eingliederung ins staatliche Hilfesystem geht. Gegenüber Behörden und Anlaufstellen müssen sie viel Zähigkeit unter Beweis stellen.“ Eine Kraft, die schwer aufzubringen ist, wenn eine Frau gerade einer Gewaltbeziehung entkommen ist und sich infolgedessen allein auf der Straße durchschlagen muss.
Wie lange sich Katja, 58, schon „durchschlägt“, kann sie nicht genau sagen. Im Grunde ging es schon während ihrer letzten Beziehung los. Das war lange bevor sie aus Berlin nach Hamburg kam. Mit schwärmerischem Ausdruck erzählt Katja von den Zeiten, als sie noch mit ihrer Band in ihrer Heimatstadt Neubrandenburg Musik machte. Eines ihrer Hörspiele mit dem Titel „Steigt der Stadt aufs Dach“ wurde sogar beim Grand Prix 1989 lobend erwähnt. Das ist lange her.
Mit einem jüngeren Mann war sie seitdem zusammen. Über Jahre hinweg haben sie sich immer wieder getrennt und immer wieder zusammengefunden. „Er war ziemlich fertig, hat mich ständig bedroht und sich selbst mit dem Messer schwer verletzt.“ Als sie von ihm und vom Leben in ständiger Angst genug hatte, drängte es sie auch nach örtlicher Veränderung. „Ich bekam etwas Geld von meiner Versorgungsstelle, kaufte eine Fahrkarte und setzte mich in den Zug nach Hamburg.“ Hier kampiert sie seit Dezember in wechselnden Unterkünften – oder einfach draußen.
Schlafen unter freiem Himmel als letzte Möglichkeit versuchen die meisten Frauen zu vermeiden. Ohne den Schutz eines abgeschlossenen Nachtquartiers sehen sie sich vielen Gefahren ausgesetzt. Die Männer in der Obdachlosen-Szene gehen mit den Frauen eher ruppig um, geht es doch um die Verteilung der attraktivsten Schlafplätze im öffentlichen Raum. Einzige Alternative sind die grundsätzlich viel zu engen Notunterkünfte – Mehrbettzimmer, die weder Ruhe noch Luft zum Atmen gewährleisten.
Aber Katja wirkt abgeklärt, als könne sie nichts mehr überraschen oder ängstigen. Dennoch hat das Leben ohne Lebensraum Spuren hinterlassen. Ihr Körper ist ausgemergelt, ihre Haut fahl. Die kurzen, rot gefärbten Haare lassen noch die Rebellin erahnen. Die Erfahrung hat Katja gelehrt, dass Frauen auf Dauer nicht gut miteinander können, vor allem nicht dicht gedrängt: „Die kratzen sich die Augen aus, das gibt nur Probleme.“
Dennoch treffen sich täglich rund 30 wohnungslose Frauen in der Anlaufstelle, deren Name übersetzt „beheiztes Frauengemach“ bedeutet. Im Tagestreff Kemenate übernimmt Betreuerin Simone Bungarten mit drei Kolleginnen die Grundversorgung ihrer „Besucherinnen“ mit Essen, Kleidung und Hygieneartikeln. Seit zehn Jahren gibt es das in Hamburg einmalige Projekt in der Charlottenstraße. „Speziell für Frauen gibt es zu wenig Versorgung und Betreuung in dieser Stadt“, so Bungarten. „Die wenigen vorhandenen Anlaufstellen sind zu hochschwellig.“
Die Kemenate bietet den Frauen einen Rückzugsraum, die Möglichkeit zu kochen, zu waschen oder zu nähen und gleichzeitig eine Plattform für soziale Kontakte und Aktivitäten. Allerdings nur tagsüber. In der Nacht sind die Besucherinnen wieder auf sich allein gestellt.
Kemenate Tagestreff für wohnungslose Frauen: Charlottenstraße 30, Eimsbüttel, ☎ 430 48 59, www.kemenate-hamburg.de. Geöffnet täglich (außer freitags) zwischen 14 und 19 Uhr, mittwochs zwischen 10 und 15 Uhr.