Tiere kennen keine Kündigung

Vergesst, dass ihr tanzt, und sagt, was ihr fühlt. Diese Forderung der australischen Choreografin Meryl Tankard zu bewältigen war nicht einfach für die Tänzer der Komischen Oper Berlin, zumal es um ihr letztes Stück ging, das heute Abend Premiere hat

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Was für ein Chaos. Eine Tänzerin brüllt über die Rampe und niemand versteht sie. Kleine Gruppen von Tänzern streiten. Andere peilen ein Ziel voller Entschiedenheit an und wissen dann plötzlich nicht weiter. Schatten und Licht legen sich darüber, Filmbilder von Wasser und Landschaften. Aber jeder, der so vehement aus den Kulissen stürzt, scheint einen anderen Film im Kopf mitzubringen. Eine Dreiergruppe zählt Schritte aus und übt das Zart-zu-Boden-Flattern. Und ein Tänzer, der das Watscheln einer Ente besonders schön nachahmt, wird vom ganzen Ensemble beklatscht.

Es ist einer der letzten Probentage für das BerlinBallett an der Komischen Oper und die Gastchoreografin Meryl Tankard. Noch stimmt die Position der Videobeamer nicht, noch sind die Wechsel von Film, Licht und Musik, die sich nach den Tänzern richten müssen, nicht genau abgesprochen. Meryl Tankard und Adolphe Binder, die Leiterin des BerlinBalletts, rufen ihre Wünsche aus der Tiefe des Zuschauerraums über Lautsprecher. Die Bühnentechniker haben nur ihre Stimme, sich zurückzumelden. Boten sausen zwischen Bühne und Regie hin und her. Der Feinschliff geht in die letzte Runde.

Die Tänzerin aber, die nicht gehört wird, die streitenden Gruppen, die Überlagerung der Bilder, all das gehört schon zum Stück, das bewusst mit der Struktur des Offenen und Unfertigen spielt und mit der Verunsicherung: Ist das nun schon Tanz oder noch etwas davor?

„Metamorphosen“: Diesen Titel hat die künstlerische Leiterin Adolphe Binder mit Bedacht als Motto der letzten Premiere des BerlinBalletts gewählt: um über das Ende hinaus auf die Möglichkeit der Verwandlung hinzuweisen. Die Geschichte des BerlinBalletts ist kurz, aber kompliziert. Anfangs wurde unter diesem Namen ein Konzept für die Ballett-Compagnien aller drei Opernhäuser in Berlin vorgestellt, um dem Tanz mehr Selbstständigkeit zu schaffen. Dieses Modell einer Fusion war immer mit Sparauflagen und der Streichung von Tänzerstellen belastet. Die Komische Oper begann zuerst mit der Umstrukturierung, verkleinerte das Ensemble um mehr als die Hälfte, engagierte neue Tänzer und nahm den Namen BerlinBallett an. Die jetzt auf der Bühne stehen, kamen meist in der Hoffnung, am Aufbau einer neuen Struktur beteiligt zu werden. Stattdessen blieb das BerlinBallett als kulturpolitisches Opfer auf der Strecke, das die Komische Oper als Sparleistung in die neue Opernstiftung einbrachte. An der Neugründung des Staatsballetts Berlin vor wenigen Tagen, das die Ballette von Staatsoper und Deutscher Oper mit einer großen Compagnie ablöst, sind sie nicht mehr beteiligt.

„Das ist eine schändliche Geschichte“, sagt Meryl Tankard, Choreografin aus Australien und früher Tänzerin bei Pina Bausch, „aber wer sich dem Ende stellen kann, hat die Chance auf Veränderung.“ Sie weiß, wovon sie redet; welche Ängste aufkommen, wenn etwas abbricht. Zehn Jahre lang arbeitete sie mit einer eigenen Compagnie in Australien und tourte durch Deutschland, Frankreich und die USA, als die Direktion beschloss, dass diese Reisen überflüssig seien. Seitdem ist sie wieder „freelanced“, freiberuflich: Sie hat für die Eröffnung der Olympischen Spiele in Sidney gearbeitet, für klassische Compagnien auf Spitze und auch für Disney-Musicals am Broadway. „Überall ist etwas zu lernen. Jede Situation braucht eine neue Sprache.“

Dass dies keine Floskel ist, zeigt ihr Stück „@north“ schon auf der Probe. Mit den Bewegungen von Tieren zum Beispiel, die von den Tänzern der Komischen Oper wie eine Phase der Verpuppung und Verfremdung durchquert werden, wie ein Abstand nehmen von den turbulenten Befindlichkeiten im eigenen Kopf, hat sich Meryl Tankard zuerst in der Vorbereitung auf ein Disney-Musical beschäftigt. Die eigene Erfahrung mit dem Ende einer Truppe ließ sie viele Fragen stellen: Wovor fürchtet man sich? Was sind die Verluste? Wie überlebt man?

Sich darauf einzulassen fiel den Tänzern anfangs schwer. Sie hatten so viel im Kopf, hetzten zwischendurch zu Auditions, ein Vortanzen, um sich neu zu bewerben, mussten sich oft für den Weggang aus Berlin entscheiden. Sie improvisierten mit Meryl Tankard und konnten sich später nicht mehr daran erinnern. Sie wollte aber gerade aus diesem Eigenen der Tänzer die Sprache ihres Stücks generieren, nicht aus den Vokabeln des klassischen Balletts. Die ist ihr zu einfach, zu vorhersehbar. Aber, meint sie, es brauchte schon einige Tricks, um die Tänzer aus der Spur zu bringen und die klassischen Formeln vergessen zu lassen.

Andererseits, die letzte Premiere, das verlangte Einfachheit. Diskret umschreibt die Choreografin eine Stimmung am Haus, die nicht gerade nach Innovationen und Anstrengungen lechzt, sondern lieber wiederholt, was man schon immer so gemacht hat. „Gut, dachte ich, ihr gebt mir nichts, dann arbeite ich mit nichts“, zog sie den Schluss und ließ die Bühne leer. Bis auf die Lichtbilder ihres Partners Règis Lansac. „Das passt zur Situation. Nur die Tänzer und die Bilder. Wenn die Energie verschwunden ist, sind auch die Bilder weg, dann ist nichts mehr da.“

In zwei Monaten hat Meryl Tankard „@north“ erarbeitet, das zusammen mit einem zweiten neuen Stück von der norwegischen Choreografin Ingun Bjørnsgaard heute Abend uraufgeführt wird. Zwei Monate sind verdammt knapp. Sie brachte als Ausgangspunkt ein Musikstück von Meredith Monk mit, das für sie viele Assoziationen an eine weite Winterlandschaft und an kleine Tiere barg. „Und stellen Sie sich vor, es schneite, dicke flauschige Flocken, als ich in Berlin ankam. Wie auf der Bühne. Das war so exotisch für mich“, schwärmt sie noch heute. Und dieser Schnee spielt auch in ihrem Stück eine sehr versöhnliche Rolle.

Ebenso wie die Tiere. Tiere kennen keine Kündigung. Sie müssen nicht nach Sinn suchen. Sie sind einfach da. Deshalb ist es so wohltuend, sich mitten im Chaos plötzlich stumm wie ein Fisch zu bewegen, wie ein Affe zu laufen und nur ganz leise zu schnattern.

„Metamorphose“, heute um 20 Uhr, 28. April und 3./6./15./22. Mai in der Komischen Oper