: Wer zu früh kommt …
von CHRISTIAN SEMLER
Die Beschwörung revolutionär-demokratischer Daten und Jahreszahlen, dieses ans Herz greifende, erhebende Gefühl, wie schwer stellt es sich angesichts der deutschen Geschichte ein. 1525 – die Bauern unterliegen, 1793 – die Mainzer Jakobinerrepublik geht unter, 1848/49 – die Konterrevolution triumphiert, 1918/19 – die Novemberrevolution bleibt auf halbem Wege liegen. Auch die Volkserhebung vom 17. Juni 1953 schien sich in dieses dunkle Kontinuum zu fügen. Dann kam der Winter 1989, kam die erfolgreiche demokratische Revolution in der DDR. Der 17. Juni 1953 wurde nun vom Herbst und Winter 1989 her gesehen, erschien in einem neuen Licht, als Freiheitsbewegung. Die heutige Aufmerksamkeit ist nicht nur dem runden Jahreszahlen-Ritual geschuldet. In Frage steht vielmehr, wie 1953 und 1989/90 ins brüchige deutsche Geschichtsbewusstsein eingehen.
Die innere Beziehung der beiden revolutionären Ereignisse erschließt sich erst jetzt, aus der Rückschau. Im Herbst 1989 entfaltete die Erinnerung an die Volkserhebung von 1953 keine motivierende Kraft. Die Protagonisten von 1953 waren den Bürgerrechtlern von 1989 unbekannt, ihre Kampfformen galten ihnen als überholt, ihre politischen Ziele – vor allem die deutsche Einheit – nicht als wünschenswert, zumindest nicht auf kurze Sicht. Vor allem aber hatte sich zwischen 1953 und 1989 die weltpolitische Konstellation verändert, was den Bürgerrechtlern und den Demonstranten 1989 vollständig bewusst war. Wäre es irgendeinem Aktivisten des 17. Juni 1953, drei Jahre vor dem Entstalinisierungs-Parteitag der KPdSU, eingefallen, „Nikita!, Nikita!“ skandierend durch die Stalinallee zu marschieren? 1953 hatten die Demonstranten die sowjetischen Panzer, 1989 hatten die Bürgerrechtler Gorbatschow im Rücken. „Wer zu früh kommt …“, hätte Gorbatschow Oktober 1989 erklärt, falls er auf den 17. Juni 1953 angesprochen worden wäre.
Vergessen war der 17. Juni aber vor allem in der Bundesrepublik. Als zusätzlicher arbeitsfreier Tag avancierte er vom freiheitlichen zum sozialen Besitzstand. In dem Maße, in dem demokratische Veränderungen in der DDR zunehmend als Werk einer aufgeklärten realsozialistischen Elite, als langfristiges Unternehmen im west-östlichen Einverständnis verstanden wurden, verdunkelte sich die Botschaft der Volkserhebung von 1953, die ebenso einfache wie offenbar schwer zu begreifende Lehre, dass gesellschaftlicher Protest manchmal die Form von Massenerhebungen oder gar – horribile dictu – Revolutionen annimmt, und dies unabhängig davon, ob die Akteure ihres Erfolges sicher wären. Stattdessen wurden anlässlich der 17.-Juni-Feiern Warnungen laut, vor allem seitens der regierenden Sozialdemokraten. So rief der spätere Justizminister Jürgen Schmude 1977 dazu auf, künftig Realitäten und Möglichkeiten nicht wieder so falsch einzuschätzen, wie dies am 17. Juni geschehen sei. Eine Warnung übrigens, die sich seitens der SPD bis zum Untergang der realsozialistischen Regime in Osteuropa fortsetzte.
Worin besteht nun der Ertrag dieses durch 1989 veränderten Blicks auf den Juni 1953? Zum Ersten in der Einsicht, dass die Volkserhebung in einem viel weiteren zeitlichen, räumlichen und sozialen Rahmen verstanden werden muss als vor 1989 angenommen. Bis d ahin unzugängliche Quellen aus den Archiven der DDR belehrten die Zeithistoriker, dass die Erhebung bis in gottverlassene Landstriche reichte, dass die Streiks vor dem 17. Juni begannen und mit der sowjetischen Intervention nicht endeten, dass schließlich in einem bislang nicht geahnten Ausmaß sich die städtischen Mittelschichten und die Bauern beteiligten.
Zum Zweiten erwies es sich als notwendig, die These von der Richtungs- und Führungslosigkeit der Erhebung zu relativieren, diesen früher als zentral erkannten Fehler, der in der „Spontaneität“ der Massenbewegung seinen Ursprung gehabt haben soll. Wenn man nur die Ereignisse in Ostberlin am 17. Juni im Blick hatte, konnte man tatsächlich zu diesem Ergebnis gelangen, unterließen es doch hier die Streikenden, eine zentrale Streikleitung zu bilden, Rundfunk- und Verlagshäuser zu besetzen, die Kommunikationslinien der Machthaber zu unterbrechen und viele andere schöne Dinge mehr. Nimmt man aber jene Städte, wo bis zum Eingreifen des sowjetischen Militärs etwas mehr Zeit blieb, vor allem Halle, Bitterfeld und Görlitz, so wird deutlich, dass die viel geschmähte „Spontaneität“ auf die erprobten Kampfformen der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung zurückgriff: Wahl überbetrieblicher Streikleitungen, Einsetzung provisorischer Machtorgane, Befreiung politischer (und sonstiger) Gefangener, Requirierung von Lautsprechern und Druckmöglichkeiten etc. Nicht in Spontaneität und Führungslosigkeit lagen also die Gründe des Scheiterns, sondern in der Frist von nur wenigen Stunden bis zum Eingreifen der sowjetischen Truppen.
Es zeigte sich zum Dritten, dass es innerhalb der Volkserhebung ziemlich genaue Vorstellungen über den Zusammenhang ökonomischer und politischer Forderungen gab. Die Rücknahme der 10-prozentigen Normerhöhungen, die Ulbricht am 16. Juni, nach der Demonstration der Berliner Bauarbeiter, auf einer Funktionärskonferenz in Aussicht stellte, hätte, falls sie in Kraft getreten wäre, nichts an der Dynamik der Erhebung ändern können. Natürlich machte es sich schmerzhaft bemerkbar, dass im Vorfeld der Erhebung kein intellektueller Klärungsprozess stattfand, keine programmatische Auseinandersetzung. Die linken Intellektuellen, die zurückgekehrten Emigranten zumal, waren paralysiert. Sie sahen in der Erhebung nicht das emanzipatorische Potenzial, sie teilten das tief sitzende Misstrauen der kommunistischen Führung gegenüber der Bevölkerung. Hinter jedem Protest vermuteten sie faschistische Drahtzieher. Analysiert man die Forderungskataloge, die an verschiedensten Orten während des 17. Juni erhoben wurden, zeigen gerade die politischen Forderungen eine gehörige Portion Realitätssinn, sind nicht angepappt, nicht Ergebnis westlicher Einflüsterung.
Gewiss, umfassende intellektuelle Beratung hätte die Streikenden vielleicht darüber belehrt, dass die sowjetischen Truppen auf alle Fälle eingreifen und die Westmächte untätig bleiben würden. Der Umkehrschluss aber, dass, wenn die Erhebung die Grenzen artiger Petitionen nicht überschritten hätte, die sowjetische Führung Ulbricht ausgewechselt hätte, ist durch bislang vorliegende Quellen nicht bewiesen.
Die Erhebung scheiterte, die Erinnerung an sie verblasste. Nach dem Bau der Mauer 1961 richteten sich die Menschen in der DDR schlecht und recht ein. Sicher existierte später eine Art unerklärter Gesellschaftsvertrag mit der Maxime: „Ihr könnt regieren, versorgt uns mit dem Nötigsten und lasst uns ansonsten im Alltagsleben in Ruhe.“ Aber dieser Vertrag konnte bei Herrschern wie Beherrschten das Kainsmal nicht beseitigen: die fehlende politische Legitimation der SED, die am 17. Juni offenbar wurde und sich im November 1989 ein zweites Mal zeigen sollte.