Unter Strom

Freizeitgestaltung am Ostbahnhof: Modelleisenbahn fahren ist wie das wirkliche Leben. Man rast sinnlos im Kreis, versucht vergeblich innezuhalten, und zum Schluss springt man aus den Gleisen. Ein existenzialistischer Selbstversuch

Im Ostbahnhof steht am Rande der Haupthalle ein großer Glaskasten, darin eine Modelleisenbahnanlage. Früher hatte ich auch mal eine, bis ich mich zu alt dafür wähnte und sie an einen Mitschüler verkaufte, der bei uns aus gutem Grund bloß „der Führer“ hieß. Unsere Englischlehrerin hatte ihn mal zum Waschen geschickt, damit er die Hakenkreuze aus Tinte entfernte sowie das blaue kleine Hitlerbärtchen. Mit meiner Eisenbahn fuhr er dann seine Zinnsoldaten in eine Schlacht, in der er sie sinnlos gegen die weit überlegenen Schlümpfe verheizte.

Dennoch üben Modellbauanlagen noch immer eine Faszination auf mich aus. Ich glaube, das ist so ein typisches Männerding: Der Anblick langer schlanker Lokomotiven, das sirrende Flüstern, mit dem sie durch die Kurven sausen, dieses eigenartige Aroma aus Blech, Staub und Strom – wer denkt, Strom sei farb- und geruchlos, hat noch nie mit einer elektrischen Eisenbahn gespielt und kennt wohl auch kaum den Vater meines alten Freundes Ralf, der einen landwirtschaftlichen Betrieb besaß, in dem er aus Kuhfürzen Energie gewann.

Im Ostbahnhof kosten 6 Fahrten 50 Cent. Pro Zug. Es gibt einen ICE, einen D-Zug (merkwürdigerweise mit Dampflok, aber wir sind ja auch im Osten), einen Personen- und einen Güterzug.

Ich warf in jeden der vier Schlitze einen Euro und drehte die Geschwindigkeitsregler aller Züge so weit auf, dass sie fast abbrachen. Ich erhoffte mir davon, dass die Züge früher oder später – am besten alle auf einmal und an derselben Stelle – entgleisen und sich rettungslos ineinander verkeilen würden. Das hätte eine halb abstrakte Variation von Neorealismus ausgedrückt, deren Anblick mich ungemein befriedigt hätte. Überhaupt spielte sich vor meinen Augen das Leben in Miniaturformat ab: Immer unter Strom sinnlos im Kreis herumrasend, erblickt man von weitem einen Bahnhof, möchte innehalten und kachelt doch unweigerlich durch, pathologisch getrieben von rastlosem Konsumdruck, solange der Euro reicht. Dann im Tunnel der Verzweiflung unter einem künstlichen Berg von Problemen hindurch. Schließlich ein Hafen, der Hafen der Ehe vielleicht, zack, und schon wieder vorbeigebrettert; auf falschen Wiesen winken uniforme Plastikmenschen.

Hinter mir standen auf einmal jede Menge Kinder. Das ärgerte mich: Ich hatte doch nicht vier Euro bezahlt, um hier ein öffentliches Fest für kriminelle Straßenkinder zu sponsern, sondern um ganz bei mir, meinen Gedanken und meiner Eisenbahn zu sein. Die Kinder konnten auch später noch spielen. Sie hatten das ganze Leben vor sich, während ich mich beeilen musste, die letzten genießbaren Jahre vor Beginn des finalen Siechtums in vollen Zügen auszukosten – in vier vollen Zügen und bis zum Anschlag aufgedreht, bis ich am Ende erschöpft aus den Schienen springen würde.

Ich scheuchte die Kinder weg: Wenn meine Züge entgleisten, wollte ich allein sein.

ULI HANNEMANN