: E-stonia wird E-Demokratie
AUS TALLINN KLAUS-HELGE DONATH
Mati Sirkel verstaut die letzten Bücher und Manuskripte in Pappkartons. Der 1. Mai ist auch für den Vorsitzenden des estnischen Schriftstellerverbandes ein Stichtag. So will es der Zufall. Er tritt ab, wenn die Ostseerepublik der EU beitritt. 700 Jahre Fremdherrschaft haben die Esten über sich ergehen lassen müssen, bis die ehemaligen Herrscher – neben Polen und Russen Dänen, Schweden und Deutsche – die kleine Nation als gleichberechtigt in die europäische Gemeinde aufnahmen.
Die letzten zehn Jahre diente Sirkel, der Grass und Habermas ins Estnische übertrug, den schönen Künsten als streitbarer Anwalt. Das Ergebnis ist beachtlich, zumal für Umbruchzeiten, die mit Kultur selten ein Nachsehen haben. In Estland zahlen Künstler keine Einkommensteuer, und wird es einmal eng, erhalten sie eine bescheidene Überbrückungshilfe.
Dies ist umso erstaunlicher, als die jungen Reformer dem Land Anfang der 90er-Jahre einen rücksichtslosen Wandel diktierten. Kein anderer osteuropäischer Staat wagte es, der Gesellschaft so viel zuzumuten. Anything goes, jeder muss zusehen, wo er bleibt, lautete das Leitmotiv. Mit Kunst und Kultur hatte die Politik indes ein Einsehen. Der Grund: Sprache und Kultur bewahrten die Esten davor, in den von Deutschen und Russen aufgezwungenen Systemen unterzugehen. An dieser Wertschätzung wird sich auch im vereinten Europa nichts ändern.
„Ein so kleines Land kann nicht allein bestehen“, meint Sirkel, „wir hatten daher nur die Wahl: entweder rein in die EU oder zurück unter Russlands Knute.“ Die Balten begegnen der Angst, im Räderwerk der Megamaschine Europa aufgerieben zu werden, gelassen und selbstbewusst. Kein Wunder, in dreizehn Jahren Unabhängigkeit haben sie Geschichte im Zeitraffer zurückgelegt und wähnen sich erstmals auf der sicheren Seite. Nato-Flieger kontrollieren inzwischen die Grenze zu Russland. Sie ist für Esten mehr als eine Demarkationslinie, hier treffen zwei Kulturen aufeinander.
Der frühere Außenminister Raul Mälk macht daraus keinen Hehl: „Estland, die Brücke nach Russland, diese Vision hatte vor zehn Jahren Sinn, nun ist Brüssel zuständig.“ Erleichterung schwingt mit, als er das sagt. Und dass die „neuen Europäer“ ihre Freiheit vor allem den USA verdanken, kommt in Sätzen wie diesem zum Ausdruck: „Wir unterstützen die transatlantischen Beziehungen auf stärkste. Wir möchten uns nicht für einen Partner entscheiden müssen.“
Jetzt, nach der Ankunft in Europa, sei der Moment zum Innehalten gekommen, meint Sirkel. Demnächst will er sich an die Übersetzung des Romans „Entdeckung der Langsamkeit“ von Sten Nadolny machen. Als Kontrapunkt zur gesellschaftlichen Raserei. Ein wenig Trotz ist auch im Spiel. Der „fatalen Beschleunigung des Zeitalters“ hält der Protagonist des Romans ein langsames Begreifen entgegen, das den Menschen als Maß und Zweck nicht aus den Augen verliert.
Darauf hat die junge Garde der Reformer bislang nämlich wenig Rücksicht genommen. Es herrschte ein ultraliberaler Kurs, der ausschließlich auf die Kraft des Einzelnen setzte. Der Sozialstaatsgedanke der Skandinavier, denen die Esten von allen Europäern am nächsten stehen, war verpönt. Noch heute lehnt Ministerpräsident Juhan Parts das Modell ab, weil es angeblich Arbeits- und Leistungsverweigerung fördert. Dass die EU-Kommission an Estland kaum etwas zu bemängeln hatte, außer bei der Übernahme der europaweiten Standards beim Arbeitsrecht, ist sicherlich kein Zufall.
Die Verlierer dieser Entwicklung hausen in sozialistischen Betonburgen in Lansnamäe oder Mustamäe. Hier, vor den Toren der Hauptstadt Tallinn, sind die Spirituosenläden rund um die Uhr geöffnet. In Kopli am Ostseestrand vegetieren Bewohner in wackligen Holzhäusern vor sich dahin, hinter vernagelten, glaslosen Fensterhöhlen, ohne fließend Wasser und Strom. Müllhaufen ziehen sich wie Wehrringe um die Behausungen. Der Gestank ist bestialisch.
Wer hier wohnt, hat keine Zukunft. Die meisten sind Russen, die nach Stilllegung der sowjetischen Industriebetriebe keine Arbeit mehr fanden. Was mag diese Menschen halten? Die Gewissheit, dass sie auch in Russland kein besseres Schicksal erwartet?
Der Kontrast zu den schmucken mittelalterlichen Backsteinbauten in Tallinns Altstadt und den Niederlassungen florierender IT-Unternehmen hinter gewagten Glasfassaden im Zentrum könnte nicht krasser sein. MicroLink ist die erfolgreichste Firma der IT-Branche mit 690 Mitarbeitern in den baltischen Staaten. Junge Leute wie Jueri Kaljundi, der mit 29 Jahren PR- und Marketing-Chef des Unternehmens ist, geben in ihnen den Ton an. Pragmatisch, unprätentiös, erfolgsorientiert. Der hoch gewachsene, hagere Informatiker spricht fließend Englisch mit amerikanischem Akzent. Mehrere Jahre hat Kaljundi im Ausland gearbeitet. Er ist ein typischer Vertreter des jungen Estland, das Bescheidenheit mit Selbstbewusstsein verbindet.
Noch erwirtschaftet MicroLink 95 Prozent des Gewinns im Baltikum. Dass es dabei nicht bleibt, davon ist der Jungmanager überzeugt. Geschäftskontakte bestehen bis nach China, wo die Firma einem deutschen Multi gerade ein lohnendes Geschäft abspenstig machen konnte. Junge Leute in der Branche verdienen zwischen 1.000 und 2.000 Euro, das Doppelte bis Vierfache eines Durchschnittslohns. Der Anreiz für Fachleute, im alten Europa Arbeit zu suchen, sei daher gering, meint Kaljundi. Im Gegenteil, Firmen wie die finnische Elcoteq überlegen, ihre Zentrale nach Estland zu verlegen. MicroLinks Projekt der Zukunft heißt Skype, es könnte das Telefonieren über das Internet revolutionieren.
Die elektronische Vernetzung fast aller Lebensbereiche ist in einem atemberaubenden Tempo betrieben worden. Bereits 2000 stellte die Regierung in Tallinn die Kabinettsarbeit auf ein papierloses Dokumentationssystem um, das Gesetzesvorlagen auch den Bürgern sofort im Internet zugänglich macht. Nebeneffekt: 192.000 Euro Papier- und Kopierkosten werden jährlich eingespart. E-Government nennen die Esten das.
Wenn alles klappt, wird ab nächstem Jahr auch im Net gewählt, eine Chipkarte dient schon jetzt als Personalausweis. Das Projekt E-cCitizen sieht überdies vor, Kommunikation und Kooperation der öffentlichen Hand mit dem Bürger via Datenautobahn zu beschleunigen. Wer seine Steuererklärung per Internet einreicht, hat heute schon Anspruch auf einen Bescheid innerhalb von fünf Tagen.
60 Prozent der Bevölkerung nutzen das Internet täglich. Selbst auf gottverlassenen Landstraßen weist ein neues Straßenschild mit dem @-Symbol zu den Piaps, den Public Internet Access Points. Sollte der Landesname „E“-stonia wirklich ein Zufall sein?, fragt eine Infobroschüre der Regierung scherzhaft.
„Bringt mir neue Ideen“, hatte Premierminister Mart Laar, Heavy-Metal-Freak, seine Landsleute in den 90er-Jahren aufgefordert. Die Esten wollten ihrem finnischen Nachbarn nicht auf Dauer nachstehen. Seither sucht das Land nach einem estnischen Nokia. Denn der Erfolg konnte nur in der Nutzung der Wissensgesellschaft liegen, über andere Ressourcen verfügt der dünn besiedelte Flecken am Finnischen Meerbusen nicht.
Vor vier Jahren schien es endlich so weit zu sein. E-stonia hatte mit der Gründung des Genom-Projektes „sein“ Nokia gefunden. Von der Aufschlüsselung der DNA eines ganzen Volkes, rund einer Million Testpersonen, träumten die Molekularbiologen damals.
Heute sind sie etwas bescheidener. Durch den Vergleich genetischer, genealogischer und medizinischer Daten wollen die Biogenetiker von der Universität Tartu eines Tages Gene und Moleküle ausfindig machen, die bei der Entstehung von Erkrankungen wie Krebs, Diabetes oder Depression eine entscheidende Rolle spielen. 270 Ärzte entnehmen die Blutproben für die nationale Biobank, die das Erbmaterial bei minus 184 Grad in einer ehemaligen Keksfabrik in Tartu konserviert. Die Hausärzte garantieren vor allem, dass die Blutspender auch den Fragebogen zu Krankheiten und Familienstammbaum lückenlos ausfüllen. Nur so lässt sich das Material der genetischen Volkserhebung später sinnvoll nutzen.
100 bis 200 Blutproben werden täglich analysiert und in Stickstofftanks konserviert. Laborchefin Dagni Krinka hofft, in zwei Jahren die ersten 100.000 Proben gespeichert zu haben.
Obwohl nationales Prestigeobjekt, läuft es nicht problemlos. Der amerikanische Geldgeber versuchte die Forschung gleich zu Beginn in seinem Sinn zu lenken. Im Frühjahr drohte er gar mit Ausstieg. Die Gefahr ist erst einmal abgewendet, aber der Zielkonflikt zwischen Kapital und Wissenschaft nicht behoben. Die Industrie möchte den Prozess beschleunigen.
In der Sowjetrepublik Estland war die Landwirtschaft eines der wichtigsten Felder. Die gesamte UdSSR wurde von hier mit Fleisch- und Milchprodukten beliefert. Der Zusammenbruch des Planwirtschaftssystems stürzte den Sektor in die Krise. Bis 2000 sank der Anteil der Landwirtschaft am BIP von ehemals 15 auf 3,3 Prozent, der Viehbestand ging auf ein Drittel zurück. Von den 70.000 Bauernhöfen, die aus der Landreform Anfang der 90er-Jahre hervorgingen, sind heute nur 10.000 bis 15.000 lebensfähig. Mit dem EU-Beitritt müssen viele Höfe den Betrieb wohl einstellen. Denn gefördert wird nur, wer über eine bestimmte Größe verfügt. Die Stärkeren dürfen sich freuen: „Ohne den EU-Beitritt hätte ich das Unternehmen eingestellt“, meint Maert Riisenberg, der die Aktiengesellschaft „Moisu-Ou“ mit 13.000 Hektar Gesamtfläche in Kehtna, südwestlich von Tallinn, leitet. Das Unternehmen mit 400 Kühen, 2.000 Schweinen und 3.600 Hühnern gilt als Musterbetrieb, seit der 47-jährige Ingenieur es 1997 übernahm. Was früher 900 Angestellte leisteten, erledigen jetzt 74. Mit Hilfe der 45 Prozent EU-Unterstützung – statt bislang 7 Prozent aus dem Staatshaushalt – wird der Betrieb modernisiert werden und vielleicht auch mal Dividenden auszahlen können, hofft Riisenberg.
Mächtig stolz ist der Betriebsleiter auf die gebrauchte deutsche Wurstpellmaschine, die gerade installiert wird. Man könnte meinen, Bescheidenheit sei tatsächlich ein Weg zum Erfolg. Dies ist Estlands erste Lektion, die im Kerneuropa wohl keine Schule mehr machen wird. Die „Entdeckung der Langsamkeit“ ist ein Moment des Fortschritts, würde Mati Sirkel sagen.