: Der übertragene Nahost-Konflikt
Übergriffe von jungen Muslimen auf Juden nehmen zu. Ihr Weltbild ist durch arabische TV-Sender geprägt. Islamisten versuchen, politischen Antisemitismus mit Koran-Zitaten zu begründen
VON WIBKE BERGEMANN
Insgesamt 22 antisemitische Straftaten hat das Antifaschistische Pressearchiv in Berlin (Apabiz) im vergangenen Jahr gezählt. Die Vorfälle reichen von Schändungen jüdischer Friedhöfe und KZ-Gedenkstätten bis hin zu verbalen und gewalttätigen Attacken gegen Juden. Die meisten der dokumentierten Straftaten wurden von Rechtsextremen verübt – so weit deutsche Normalität wie bekannt.
Doch mindestens sechsmal kam es 2003 in Berlin auch zu spontanen körperlichen Angriffen muslimischer Jugendlicher gegen Menschen, die als Juden zu erkennen waren – etwa weil sie einen Davidstern am Hals oder einen schwarzen Hut trugen. Schon im Januar 2001 wurde der Rabbiner Walter Rothschild im U-Bahnhof Wittenbergplatz von arabischen Jugendlichen attackiert. „Tendenziell werden spontane körperliche Angriffe eher von jugendlichen Migranten verübt. Antisemitische Sachbeschädigungen stammen meistens von Neonazis“, beschreibt Ulli Jentsch vom Apabiz die Situation. Nach seiner Einschätzung nehmen die tätlichen Übergriffe weiter zu.
Der Antisemitismus der nationalsozialistischen Ideologie und die antisemitischen Übergriffe muslimischer Jugendlicher seien kaum vergleichbar, meint der in Berlin lebende libanesische Islamwissenschaftler Ralph Ghadban. Wichtigster Grund für die Aggressionen der Jugendlichen ist seiner Meinung nach die Entwicklung des Nahost-Konflikts: „Wenn es da eine friedliche Lösung gäbe, wäre dieses Phänomen sofort beendet.“
Die Jugendlichen verfolgen die Ereignisse über al-Dschasira und andere Fernsehsender aus den arabischen Ländern. Rund 30 arabische TV-Programme lassen sich über Satellit empfangen, die Berichterstattung vermittelt die arabische Perspektive auf die Auseinandersetzung, nicht selten kontrolliert von der Regierung des jeweiligen Landes.
Um die Übergriffe muslimischer Jugendlicher zu verstehen, müsse aber auch deren soziale Situation berücksichtigt werden, meint Ghadban. „Weil die Integration nicht gewollt war, sind in den vergangenen Jahrzehnten unter den Migranten Parallelgesellschaften entstanden.“ Und in denen hätten häufig die Islamisten das Sagen. „Ich kenne keinen arabischen Moscheeverein, der moderat ist“, so Ghadban. Die Moscheen werden organisiert von Hamas, Hisbollah oder Wahhabiten. Zwar sei nicht jeder Moscheegänger ein Anhänger der Islamisten. Doch „immer besteht die Gefahr, dass diese Gruppen, die versuchen, den politischen Antisemitismus religiös mit Koran-Zitaten zu begründen, die Gläubigen beeinflussen“. Immer wieder gehen islamistische Gruppen auch in Berlin mit offen antisemitischen Parolen auf die Straßen. Ein Beispiel: In dem Bulletin „Antisemitismus und Antiamerikanismus“ dokumentiert Claudia Dantschke vom Zentrum Demokratische Kultur eine Pro-Palästina-Demonstration im September 2002 auf dem Potsdamer Platz: Jugendliche Hisbollah-Sympathisanten verbrannten Israel-Fahnen und skandierten: „Wir wollen keine Judenschweine“, vereinzelt auch: „Sieg heil“.
In Kreuzberg hat sich im Herbst nach den Anschlägen in Istanbul die „Migrantische Initiative gegen Antisemitismus“ gegründet, um den islamistischen Tendenzen in der türkischen Community entgegenzutreten. Islamistische türkische Zeitungen wie Vakit werden in Deutschland trotz offen antisemitischer Titel wie „Der Jude ist tollwütig geworden“ frei verkauft. „Wir wollen den Zusammenhang zwischen Islamismus und Antisemitismus aufzeigen und die Sensibilität für Antisemitismus in den säkularen türkischen Kreisen schärfen“, sagt Aycan Demirel von der Migrantischen Initiative. Doch auch hier stößt die Gruppe auf Widerstände: Manche türkische Organisationen zögen es vor, den Antisemitismus in der türkischen Gesellschaft zu tabuisieren. Etwa weil sie fürchten, solche Themen könnten die EU-Ambitionen der Türkei gefährden.