: Die strenge Taktiererin
Ingeborg Junge-Reyer wird neue Senatorin für Stadtentwicklung. Die 57 Jahre alte Sozialdemokratin vermischt britisches Understatement mit deutscher Strenge. Von ihr gibt es kein Wort zu viel
VON WALTRAUD SCHWAB
Auf einen Schritt folgt der nächste. Im Idealfall ist das so. Umso besser, wenn der Weg nach oben zur Macht führt. Solche Beständigkeit kultiviert Ingeborg Junge-Reyer, auch wenn die Zeit zwischen den einzelnen Stufen lang wird. Die 57-Jährige wird neue Senatorin für Bau, Wohnen, Stadtentwicklung, Verkehr und Umwelt in Berlin und ist damit eine der mächtigsten Personen der Stadt. Sie löst Peter Strieder ab, der sich das Superressort unter der rot-roten-Koalition zusammenzimmerte.
Junge-Reyer ist eine alte Kollegin von Strieder. Schon in den 90er-Jahren saß sie mit ihm im Bezirksamt Kreuzberg. Sie war Stadträtin für Soziales, Gesundheit und Finanzen, er Bürgermeister. Dass Strieder ihre Kompetenz schätzt, kann angenommen werden, denn vor zwei Jahren hat er sie zu seiner Staatssekretärin gemacht. Obwohl erst so kurz mit Stadtentwicklung befasst, zweifeln selbst politische Gegner nicht an ihrer Qualifikation für den Posten.
Vom Amt, das Junge-Reyer innehaben wird, sagte ihr Vorgänger, dass es trotz Sparauflagen noch immer Mittel zur Verfügung habe, um die Stadt eigenen Ideen gemäß zu gestalten. Darauf angesprochen, wie sie diesen Spielraum nutzen wolle, meint sie: „Politik hat immer mit Gestalten zu tun.“ Auch da, wo gekürzt wird, könne etwas geschaffen werden.
Die Antwort weist Junge-Reyer als Taktikerin aus. Als eine, die jedes Wort, das sie verlautbaren lässt, versucht zu kontrollieren. Zum Gespräch hat sie ihre Pressereferentin mitgebracht, die alle ihre Aussagen zum neuen Arbeitsfeld mitschreibt.
Trotzdem muss Junge-Reyer zugute gehalten werden, dass sie in ihrer Zeit als Stadträtin mit reduzierten Etats gute Politik machte. So hat sie beispielsweise Asylbewerber in privaten Wohnungen untergebracht, weil dies billiger war als in Heimen. Dass sie jedoch als Stadtentwicklungssenatorin nicht nur die Gegenwart verwaltet, sondern Entscheidungen treffen kann, die visionär in die Zukunft reichen, dies wird von ihr klein geredet. Auch im Stadtentwicklungsressort sei das Geld knapp.
An Understatement, eine englische Tugend, die Junge-Reyer mit deutscher Gründlichkeit paart, muss sich gewöhnen, wer mit ihr zu tun hat. Mit großen Ideen geht sie nicht hausieren. Das heißt nicht, dass sie sie nicht hat. Denn ihre Kompetenz ist zwar mit hartem Fleiß, aber auch mit Fantasie und Eigensinn gepaart. Hat sie einen Plan, wird sie ihn beharrlich verfolgen. Nicht im Alleingang. Zumindest vordergründig nicht. „Ich höre gerne Rat, aber ich folge nicht jedem“, sagt sie. „Wenn Kontroversen bestehen, dann ziehe ich mich nicht zurück.“
Auf Kontroversen kann Berlin nur hoffen. Noch besser wäre, wenn sie als neue Senatorin diese auslösen würde. Ganz ausgeschlossen ist es nicht. Einerseits flüchtet sie in Diplomatie, wenn sie zu ihren politischen Konzepten für Stadtentwicklung, Umwelt oder Verkehr befragt wird. Andererseits deutet sie an, dass sie nicht mehr nur den Blick der Planer und Technokraten auf Berlin, sondern auch jenen der Menschen, die hier wohnen, berücksichtigt sehen möchte.
Deshalb habe sie für die Neugestaltung des Kulturforums in Auftrag gegeben, dass der Platz aus Augenhöhe der Fußgänger analysiert werde. „Architektur muss auch dienen.“ Ob sie den Blick weg von den Investoren, die sich eine Stadt ökonomisch einverleiben, hin auf die Menschen lenken wolle, die sie sich im Alltag aneignen müssen, wird sie gefragt. Ihre diplomatische Antwort: „Wir sind keine Bauherren.“ Ob sie bei der zukünftigen Entwicklung Berlins einen solchen Paradigmenwechsel anstrebe, wird insistiert. Aber Junge-Reyer ist keine, die etwas bejaht, das ihre Aussage interpretiert. Im günstigsten Fall widerspricht sie nicht. So wie jetzt. Das mag dann „ja“ bedeuten.
Junge-Reyer hat sich ihre Kenntnis vor allem in der Sozialverwaltung angeeignet. Als Sozialstadträtin, Staatssekretärin in der Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales und Frauen, als Leiterin eines Sozialamtes und zuvor eines Seniorenheims. Heute ist es das Kapital, aus dem sie schöpfen kann, wenn sie die Realität der Berliner Bevölkerung mit der Politik einer Stadtentwicklungssenatorin verknüpfen will. Sie weiß um den niederen Lebensstandard vieler Leute in der Stadt und um die Kieze, die zu verslumen drohen. Sie sieht sich in der Verantwortung. Zwar kann sie die Arbeitslosigkeit nicht beseitigen, aber die Eigenverantwortung der Leute stärken, das könne sie schon. „Menschen wollen ihre eigene Umgebung gestalten. Es ist ihnen nicht gleichgültig, wie es aussieht. Ich bin der festen Überzeugung, dass die Leute mitentscheiden, wenn wir ihnen diese Kompetenz zubilligen.“
Wenn es um den Blick auf die Berliner und Berlinerinnen geht, sieht Junge-Reyer sich als Verbündete mit den Bezirken. „Wir sind Partner, nicht Gegner.“ Es ist eine zweischneidige Solidarisierung. Einerseits will sie die Bezirksversammlungen als basisdemokratisches Element nicht in Frage stellen. Andererseits werde sie, wie ihre Vorgänger, den Bezirken mitunter deren Planungshoheit streitig machen und „in dem einen oder anderen Fall die Planung an sich ziehen“. Junge- Reyers Mimik wird starr und entschlossen, wenn sie das sagt. Es ist bekannt, dass die Politikerin, die mit Sachkenntnis ihre Entscheidungen untermauert und von daher ein gewaltiges Arbeitspensum bewältigen muss, hart sein kann. Auch gegen sich.
Härte ist das eine, Ausdauer ein anderes Instrument der Macht. Bei der Bebauung des Schlossplatzes, einem weiteren ungelösten Kapitel Berlins, scheint sie es ins Spiel bringen zu wollen. Derzeit würden die Aufträge für die Planung des Palastabrisses herausgegeben. Man wisse ja noch immer nicht, wie man abreißen solle. Sobald dann die ersten Bebauungsentwürfe vorlägen, werde es eine öffentliche Diskussion darüber geben, meint sie. Ist die Entscheidung über das Schloss nicht schon gefallen, wird sie gefragt? Ja, es gäbe einen Beschluss, aber da der Schlossplatz der zentrale Ort der Republik sei, werden alle mitreden wollen, sobald erste Planungen vorliegen. Ob sie die neue Öffnung der Diskussion wolle? „Sie wird sich selber öffnen.“ Ob sie das befürworte? Sie widerspricht nicht.
Niemals würde sich Junge-Reyer zu einem unbedachten Wort hinreißen lassen, denn die Kunst des An-sich-Haltens beherrscht diese Politikerin perfekt. Über ihr Privatleben ist nur das Altbekannte zu erfahren: älteste von fünf Geschwistern aus einem Dorf in Nordrhein-Westfalen, verheiratet, lebt in einer Wohngemeinschaft in Reinickendorf. „Mein Leben ist heute gut. Es war gut, als ich 40 war. Es war gut, als ich 30 war“, sagt sie. Mehr sagt sie nicht.
Einmal allerdings entgleitet Junge-Reyer die Kontrolle über das Gespräch doch. Die Frage, ob Frauen härter arbeiten müssen als Männer, um in den Olymp der Macht zu gelangen, verneint sie. Darauf hingewiesen, dass sie den Posten erst als 57-Jährige erhält, während Strieder mindestens zehn Jahre jünger war, beginnt sie eine komplizierte Kalkulation, an deren Ende steht, dass Strieder, der heute fast 52 ist, genau so alt war wie sie, als er Supersenator wurde. Die Zeitverwirrung kann nur so erklärt werden: Kurz zuvor hatte ihr die Pressereferentin bestätigt, dass sie zehn Jahre jünger aussehe, als sie ist. Dem Kompliment erlag selbst sie. Für einen Augenblick lächelt sie sich im Spiegel über dem Tisch im Café zu, streicht ihre Haare zurecht und wirkt ganz leicht.