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Archiv-Artikel

Hamsterkäufe aus Sorge vor EU-Preisen

Viele Polen legen sich Vorräte an aus Angst vor Preissteigerungen nach dem Beitritt zur EU. Das erhöht die Nachfrage plötzlich so sehr, dass die betreffenden Preise zur Freude der Händler auch wirklich steigen, und das schon vor dem EU-Beitritt

AUS WARSCHAU GABRIELE LESSER

Andrzej Kozluk schiebt einen vollen Einkaufswagen: 10 Päckchen Zucker, 20 Gläser Marmelade, 8 Kilo Rindfleisch und 20 Packen Reis. „Das wird alles teurer in der EU“, sagt er. In der Hand hält er einen Zeitungsausschnitt der Gazeta Wyborcza. Mit Filzstift hat er auf der Preisliste alle Produkte eingerahmt, die laut Zeitung teurer werden. „Hartkäse soll auch teurer werden!“, ruft ihm eine Frau zu. Sie reicht Kozluk ihre Liste. Im Nu steht eine Gruppe zusammen und vergleicht Listen. Dann stieben alle auseinander. Jeder hat etwas vergessen, das unbedingt in den Vorratsschrank gehört.

Polen ist seit Mitte März im Kaufrausch. Der Zucker werde nach dem Beitritt zur EU teurer, hieß es im Radio. „Erst wollte ich es nicht glauben“, schüttelt Kozluk den Kopf. „Zucker? Von den billigen Rüben? Das kann doch gar nicht sein.“ Vorsichtshalber kaufte er dann aber doch mal ein paar Kilo. Später berichteten immer mehr Medien über anstehende Preiserhöhungen.

In den 70er- und 80er-Jahren, als es im realsozialistischen Polen kaum etwas zu kaufen gab, begannen alle Streiks der Gewerkschaft Solidarność mit Preiserhöhungen für Fleisch und Wurst. Anfang April stiegen in Polen die Zuckerpreise. Immer mehr Leute kauften kiloweise Zucker, die Vorräte wurden knapp, die Produzenten rieben sich die Hände und die Preise stiegen weiter. Heute kostet das Kilo Zucker nicht mehr 1,85 Zloty (knapp 40 Cent) wie noch Anfang März, sondern 4,95 Zloty (1,05 Euro). In Deutschland zahlt man dafür im Schnitt 92 Cent. Nach dem Zucker- stiegen auch andere Preise – alle angeblich wegen der EU.

Nachdem es zu Panikkäufen mit Verletzten gekommen war, schalteten sich die Nationalbank und das Amt für Konsumentenschutz ein. Über eine Hotline konnten Verbraucher anrufen und Preissteigerungen melden, die dann darauf geprüft werden sollten, ob sie gerechtfertigt waren oder das Amt für Verbraucherschutz eingreifen musste. Anders als das Massenblatt Fakt, das mit der Aktion „Fakt gegen Preiserhöhungen“ die Stimmung noch weiter anheizte, gab Gazeta Wyborcza gemeinsam mit der Nationalbank einen „Preisbericht“ heraus, der genau auflistete, was warum um wie viel teurer oder auch billiger werden würde. Die Idee, „ehrliche Händler“ mit einem Aufkleber am Schaufenster zu beglücken, lehnten allerdings viele Leser ab. Auch Kozluk schüttelt den Kopf: „Das riecht ein bisschen nach Denunziation.“

Der Kaufrausch schlägt sich in der Statistik nieder. Allein im März stieg der Einzelhandelsumsatz um 21 Prozent. Autos waren der Spitzenreiter. Im Vergleich zum Vorjahr wurden im ersten Quartal 2004 49 Prozent mehr Pkws und Lastwagen verkauft. Auch Möbel, Hausgeräte und Hifi-Anlagen waren begehrter. Hier gab es ein Umsatzplus von über 21 Prozent. Ebenso bei Lebensmitteln. Auch der Verkauf von Land zog stark an. Nicht weil die Bauern einen Preisanstieg für Grund und Boden fürchten, sondern weil es flächenabhängige EU-Zuschüsse gibt.