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Archiv-Artikel

Verschachtelte Realitäten

Musikalische Märchen nach Texten von den Gebrüdern Grimm bis Janosch: Eine Aufführungsreihe des NDR in der Reihe „das neue werk“ präsentiert ab heute zeitgenössische Vertonungen

von REINALD HANKE

Die NDR-Konzertreihe „das neue werk“ widmet sich vom 20. bis 22. Juni unter dem Motto Märchendunkel zeitgenössischen Stücken, die sich mit dem Thema „Märchen“ auseinander setzen. Der Märchenbegriff wird dabei so weit gefasst, dass auch Schlagzeugstücke des mehrfach preisgekrönten Musikers Matthias Kaul über so märchenhaft entrückte Persönlichkeiten der Zeitgeschichte wie Elvis Presley, John Lennon und Jimi Hendrix darunter fallen und heute zur Aufführung gelangen werden. Am selben Abend dirigiert Stefan Geiger ein Ensemble von Mitgliedern des NDR Sinfonieorchesters, das mehrere Stücke aufführt, die ihre Sujets aus dem 19. Jahrhundert, der großen Epoche des Märchens, beziehen. Neben Igor Strawinskys berühmtem Stück Histoire du Soldat stehen Werke von der Koreanerin Unsuk Chin und dem Dänen Hans Abrahamsen auf dem Programm. Eine Uraufführung des deutschen Komponisten Günter Steinke und Werke des jungen litauischen Komponisten Vykintas Baltakas bilden besondere Höhepunkte dieses Programms.

Der zweite Konzertabend am morgigen Sonnabend bringt die Uraufführung von Dieter Glawischnigs neuer Komposition Grimms Märchen nach Janosch mit der NDR Bigband. Altmeister Glawischnig steht selbst am Pult. Nach der Urfassung ihrer Kinder- und Hausmärchen im Jahr 1812 hatten Jakob und Wilhelm Grimm ihre Erzählungen mit jeder Neuausgabe dem Gedankengut der Zeit angepasst. Diese Tradition führte Janosch weiter: 1972 schrieb und zeichnete der Vater der Tigerente seine Version der Grimm‘schen Märchen. Seitdem sorgen Geschichten wie Hans mein Igel oder Der Singende Knochen für lange Nächte an den Kinderbetten. Er hat die vertrauten Märchen modernisiert, ironisch gebrochen und mit einer Prise Gesellschaftskritik gewürzt. Ein idealer Stoff für Dieter Glawischnig, dessen langjährige Passion die Verbindung von Jazz und Texten ist. Gemeinsam mit dem Schauspieler Dietmar Mues hat Glawischnig aus den 54 (Nach-)Erzählungen von Janosch acht als Libretto ausgewählt.

Der dritte Konzerttag am Sonntag widmet sich Ludwig Tiecks Kunstmärchen Der blonde Eckbert. Zunächst liest der bekannte Schauspieler Christoph Bantzer den Originaltext mit Klavierimprovisationen von Claus Bantzer. Anschließend führt die Komponistin der Vertonung dieses Textes, Judith Weir, in ihr Stück ein, das anschließend aufgeführt wird.

Judith Weir hat das Vieldeutige, Rätselhafte und Beklemmende dieser im Harz spielenden Märchennovelle aus dem Jahre 1796 in ihrer ungefähr zweihundert Jahre später entstandenen Kammeroper mit reichen Mitteln in Szene gesetzt. In dieser klassischen Doppelgängergeschichte wird zwischen den Polen des Schreckens und der Komik eine Welt erschaffen, die den Zuhörer in die Unsicherheiten ständiger Stimmungs- und Handlungsumschwünge versetzt. Tiecks verwirrendes und bedrohliches Spiel mit den Wirklichkeitsebenen meint jedoch nicht nur die Sehnsucht nach dem Irrationalen, sondern entspricht dem romantischen Credo, dass die Wirklichkeit sich gerade nicht an der Oberfläche der Erscheinungen ablesen lasse.

Ein hochkarätiges Solistenensemble sowie Chor und Sinfonieorchester des NDR unter Stefan Asbury wird Weirs Werk in konzertanter Form zur Aufführung bringen.

Konzert 1 (Schlagzeugprojekt Tragische Tode, moderne Märchen): Fr, 20.6., 18 Uhr; Konzert 2 (Werke von Steinke, Chin, Abrahamsen, Strawinsky, Baltakas): Fr, 20.6., 20 Uhr. Konzert 3: (Glawischnig: Grimms Märchen nach Janosch): Sa, 21.6., 20 Uhr. Musikalische Lesung zu Ludwig Tiecks Der blonde Eckbert: So, 22.6., 18 Uhr; Konzert 4 (Judith Weirs Kammeroper The Blond Eckbert): So, 22.6., 20 Uhr. Alle Veranstaltungen im Rolf-Liebermann-Studio des NDR, Oberstraße 120