Modernes Mädchen

Begehbare Schneekugeln, sensationelle Filmfragmente und ganz viel zum Anfassen: Im Altonaer Museum widmet sich die Ausstellung „Heidi: Mythos – Marke – Medienstar“ der bekanntesten Schweizerin aller Zeiten

von Alexander Diehl

„Fragt man einen Schweizer oder eine Schweizerin, welche Figur die berühmteste des Landes sei, erhält man als Antwort oft: ‚Wilhelm Tell‘“, sagt Walter Leimgruber, Volkskundler an der Universität Zürich. „Stellt man einem Nichtschweizer oder einer Nichtschweizerin die gleiche Frage, kommt als weitaus häufigste Antwort: Heidi.“ Als diese 1879 erstmals zwischen Buchdeckeln auftauchte, konnte wohl weder die Autorin Johanna Spyri noch sonst jemand absehen, welche Karriere sie machen würde.

Leimgruber firmiert als Projektleiter der Ausstellung „Heidi: Mythos – Marke – Medienstar“, die, nach Stationen in Zürich und der Graubündner Heimatregion des fiktiven Waisenmädchens sowie in München jetzt im Altonaer Museum gastiert. Weil man sich traditionell immer schon besonders mit „populären Bildwelten“ befasst habe, so der Leiter des Hauses, Axel Feuß, passe die Ausstellung doch sehr gut in das explizit norddeutsche Landesmuseum.

Und das Phänomen Heidi funktioniert ja gerade über die Fremdheit; sie erlangte Symbolstatus gerade bei jenen, denen die reale eidgenössische Bergwelt mit ihrem unromantischen Alltag fremd sein und bleiben musste. So erklärt sich die beeindruckende „mediale Erfolgsgeschichte“ (Leimgruber): In knapp 60 Sprachen sind die beiden Heidi-Romane Johanna Spyris übersetzt worden und haben so eine Gesamtauflage von über 50 Millionen Exemplaren erreicht – da ist unter den Kinderbuch-Helden gerade mal Harry Potter, „das müssen wir neidlos zugeben, noch erfolgreicher“, sagt Leimgruber.

Ein wenig Biographisches zur Autorin, dazu kurze Texte und kleine Abbildungen zur Publikations- und Rezeptionsgeschichte bilden den Auftakt der Ausstellung. Aber gleich nebenan will auch eine nachgebaute Bauernstube erforscht werden, müssen Schubladen geöffnet und Leitern erklommen werden. Kleine wie große BesucherInnen sollen hier auf ihre Kosten kommen, wie das immer so schön heißt. Und in der begehbaren Schneekugel sollen Museumsgänger auch einmal zu Betrachteten werden können.

Neben dem deutschen Sprachraum erwärmten sich insbesondere in den USA und in Japan die Menschen für die nicht bloß rückwärts gewandte Geschichte zwischen Alpenidylle und krank machender Großstadt: Der Stoff erfuhr zahlreiche Bühnen- und Filmadaptionen, kam als Musical und sogar als Oper zur Aufführung. Kinderstar Shirley Temple prägte mit ihrer Heidi-Darstellung (1937) ganze Generationen. Nicht zuletzt dadurch, dass sie – wie übrigens auch die Nationalsozialisten, denen Heidi als empfehlenswerte Lektüre galt – eine blonde Heidi etablierte, während im Ausgangstext eher ein „südländischer Wildfang“ (Leimgruber) beschrieben wurde. Und die japanische Zeichentrickserie aus dem Jahr 1974, die bis heute regelmäßig ausgestrahlt wird, dürfte für weite Teile der westlichen Jugend die wirkmächtigste Version sein.

Den Grund für die scheinbare Universalität des Heidi-Stoffes sieht Leimgruber in den „grundlegenden Erfahrungen“, die die Figur verkörpere. „Spyri erzählt die Geschichte vom Verlust, der durch die Modernisierung entsteht“ – vor dem Hintergrund einer rapide umgewälzten Schweiz habe die Angehörige städtischen Bürgertums eine „Ikone der Moderne“ geschaffen. Der gerade immer dort besonderes Interesse entgegengebracht werde, wo sich Gesellschaften im Umbruch befänden. Haben also am Ende die Auswirkungen der Agenda 2010 und das Ausstellungsgastspiel auch miteinander zu tun?

Di–So, 11–18 Uhr, Altonaer Museum; bis 22.8.