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Archiv-Artikel

„Wir brauchen keine Opferkonkurrenz“

Salomon Korn kritisiert die mangelnde Aufarbeitung des Antisemitismus in Osteuropa – und fordert die Westeuropäer auf, das Leid der Osteuropäer bis 1989 in ihr kollektives Gedächtnis aufzunehmen

INTERVIEW STEFAN REINECKE UND CHRISTIAN SEMLER

taz: Herr Korn, leben Sie gerne in Deutschland?

Salomon Korn: Ja. Ich lebe seit 55 Jahren in Frankfurt, in einer toleranten Stadt, mit einem Drittel Ausländern. Ich mag auch das Föderale in Deutschland: die Sprach- und Kulturvielfalt.

Empfinden Sie Deutschland als Ihre Heimat?

Ich benutze das Wort „Heimat“ ungern – Frankfurt empfinde ich als mein Zuhause. Die deutsche Sprache, Kultur und Lyrik sind Teil meines Heimatgefühls geworden.

Sie sind 1943 in Polen geboren worden. Haben Sie zu Hause Polnisch gesprochen?

Ja. Ich spreche es heute nicht mehr, aber ich verstehe es noch ein wenig. Die Umgangssprache bei uns zu Hause war Jiddisch. Später haben die Eltern Polnisch gesprochen, wenn sie etwas sagten, was wir Kinder besser nicht verstehen sollten.

Haben Sie persönlich in Deutschland Diskriminierung erlebt – weil Sie Jude sind?

Nicht tätlich. Nur versteckt, verbal. Abgesehen von den, allerdings nicht sehr zahlreichen, anonymen Briefen sind mir antisemitische Konfrontationen erspart geblieben.

Glauben Sie, dass es in der Bundesrepublik gelungen ist, den Antisemitismus wirksam zu tabuisieren?

Das Wort „tabuisieren“ gefällt mir nicht, das ist mir zu stark.

sagen wir: stigmatisieren.

Antisemitismus ist in Deutschland seit Jahrzehnten nicht gesellschaftsfähig. Das ist richtig.

Ist dies auf das offizielle Sprechverbot samt Sanktionen zurückzuführen? Oder ein Effekt dauerhafter Aufklärung?

Das ist eine schwierige Frage. Es gibt unbestreitbar seit langem das Bemühen von Schulen, Universitäten und Medien, diese Aufklärung zu befördern. Das ist allerdings nicht immer bis in die Familien durchgedrungen. Dort haben sich nationalsozialistische Vorstellungen, wie neuere Studien zeigen, hartnäckiger und subtiler als bisher vermutet gehalten. Väter oder Großväter wurden selten als Mitläufer oder Täter gesehen, der kleinste Hinweis wurde benutzt, um Eltern oder Großeltern zu Widerstandskämpfern zu machen. Motto: Opa war kein Nazi. Man darf also die mediale Oberfläche nicht mit den unsichtbaren, langfristigen Strukturen verwechseln. Ich glaube, dass der Nationalsozialismus eine untergründige Dünung hinterlassen hat, die auf unabsehbare Zeit wirksam bleiben wird.

Auf offizieller Ebene funktioniert das Verbot offensichtlich: Möllemanns rabiate Israelkritik hat seinerzeit der FDP nicht genutzt, die CDU hat im Fall Hohmann für ihre Verhältnisse schnell und konsequent reagiert. Zeigt dies nicht, dass die Ächtung des Antisemitismus eine Erfolgsgeschichte ist?

Das Wort „Erfolgsgeschichte“ ist zu ungenau, die Dinge sind ambivalenter, es existieren Gegenströmungen. Richtig ist, dass in der Öffentlichkeit antisemitische Äußerungen als Stigma gelten. Der Nationalsozialismus hat nichts als Destruktivität hinterlassen. Er hat kein Gedicht, kein Kunstwerk, keinen Roman, keine wissenschaftliche Arbeit von Rang und bleibendem Wert hervorgebracht. Nichts, was sich in die deutsche Kultur, die wir kennen, integrieren ließe. In der Tradition dieser durch und durch destruktiven Ideologie möchte heute natürlich niemand mehr stehen – von den ewig Unbelehrbaren einmal abgesehen.

Es gibt die Kategorie des latenten Antisemitismus. Ist das ein brauchbarer Begriff – oder ist er zu unpräzise?

Letzteres. Es gibt fraglos einen verborgenen Antisemitismus hinter verschlossenen Türen, auch und gerade in der so genannten besseren Gesellschaft – aber wir wissen wenig darüber. Wir stochern meist im Nebel, wenn wir über Antisemitismus in Deutschland reden, und der latente Antisemitismus ist nicht weniger gefährlich als der manifeste, eher gefährlicher. Es gibt zwar viele Zahlen, wie viele Deutsche antisemitisch eingestellt sind – aber die schwanken zwischen 15 und über 30 Prozent. Die letzte repräsentative, groß angelegte Untersuchung war die so genannten Silbermann-Studie von 1974, auf die sich spätere Umfragen stützen. Auch deshalb sollte man Begriffe wie „latenter“, „sekundärer“ oder „schuldreflexiver“ Antisemitismus mit Vorsicht verwenden. Wir brauchten eine wissenschaftliche Langzeitstudie, die mindestens 30 Jahre fortzuschreiben wäre – nur so könnte man Veränderungen verlässlich benennen.

Sie haben kürzlich in Leipzig aus Protest gegen eine Rede der lettischen EU-Beauftragten Sandra Kalniete den Saal verlassen, weil diese sowjetische und Naziverbrechen gleichgestellt hatte. Kalniete hatte in ihrer Rede appelliert, dass wir, der Westen, ihre Geschichte, nämlich die der Unterdrückung Osteuropas bis 1989, anerkennen sollen. Hat Sie damit nicht Recht?

Doch, gewiss. Die Osteuropäer haben unter der sowjetischen Besatzung unendlich gelitten. Dieses Leid gehörte bisher nicht zum kollektiven Gedächtnis Westeuropas – das muss sich ändern. Wir Westeuropäer müssen das zur Kenntnis nehmen. Ich bin auch nicht der Meinung, dass die Opfer, die die Sowjetunion im Kampf gegen Hitler gebracht hat, Verbrechen an Letten, Esten und Litauern auch nur im Geringsten rechtfertigen.

Wäre es nicht klüger gewesen, Frau Kalniete verständnisvoller zu behandeln?

Geschichte ist mehr als die Summe der Einzelschicksale und mehr als persönliches Erleben und individuelles Leid, auch dasjenige von Frau Kalniete. In übergeordneter historischer Perspektive waren die Verbrechen der Nazis einzigartig: Der Genozid am jüdischen Volk war singulär, weil er alle, vom Säugling bis zum Greis, umfasste. Ich möchte keine Opferkonkurrenz betreiben – aber zur historischen Wahrheit gehört, dass in Lettland und Litauen 95 Prozent der ansässigen Juden an Ort und Stelle vernichtet wurden, so viel wie nirgends sonst. Die Kollaboration der Letten, Litauer und Esten war nahezu einzigartig – die Morde an Juden begannen, noch bevor die Deutschen einmarschiert waren. Wenn manche, wie auch Frau Kalniete, behaupten, nur einige hundert Letten wären daran beteiligt gewesen, dann ist dies falsch.

Ihr Protest richtete sich also weniger gegen die Gleichsetzung von nationalsozialistischem und sowjetischem Totalitarismus als gegen die Verdrängung der lettischen Verstrickung in den Judenmord?

Sowohl als auch. Ich bin kein Historiker, aber ich weiß von überlebenden Juden aus diesen Ländern, dass dort keine Nazikollaborateure, wohl aber Sowjetkollaborateure verurteilt worden sind. Es gab in Lettland eine israelisch-lettische Kommission zwecks Aufklärung der Kollaborationsverbrechen – die Israelis haben diese Kommission verlassen, weil es dort offenbar um Legitimation und nicht um historische Wahrheit ging. Noch heute marschiert die lettische SS-Division, in Erinnerung an die 30.000 Letten, die bei der SS gedient haben, bei offiziellen Anlässen auf. Das zeigt, wie gering der Wunsch dort ist, aus der Geschichte zu lernen.

Kalniete hält dem entgegen, dass diese 30.000 keineswegs direkt an Judenmorden beteiligt waren. Beschreiben Sie die Lage differenziert genug?

Es gab auch Letten, die Juden gerettet haben, das ist richtig. Es gibt angeblich seriöse Schätzungen, dass „nur“ bis zu 1.500 Letten an Morden beteiligt waren. Allerding sind diese Schätzungen bis heute durch nichts belegt. Ich bin bereit, mich zu revidieren, wenn wissenschaftlich belegbar ist, dass die lettische Kollaboration weniger intensiv war, als mir bekannt ist. Ich möchte hier keine Pauschalurteile über Lettland und seine Einwohner verbreiten. Ich verstehe auch, dass Frau Kalniete und viele Letten sich schwer tun, diesen Teil ihrer Vergangenheit zu akzeptieren, weil sie so sehr unter einer dreifachen Besatzung gelitten haben. Aber ich weiß von Überlebenden, dass lettische Nationalsozialisten gefürchteter waren als deutsche. In Lettland wurden 95 Prozent der Juden an Ort und Stelle ermordet. Darüber kann ich nicht hinweggehen.

Sie sagen, dass Sie keine Opferkonkurrenz wollen. Doch Tatsache ist, dass hier zwei Opfererzählungen aufeinander prallen. Wie kann man diese Debatte so organisieren, dass nicht nur bekannte Muster wiederholt werden?

Das ist eigentlich nicht so schwer. Warum kann man nicht das eine narrativ erzählen, ohne das andere zu verschweigen? Unsere Aufgabe als Westeuropäer ist es, die Verbrechen an den Osteuropäern ins Bewusstsein zu rücken. Gleichzeitig beharre ich aber darauf, dass der nationalsozialistische Genozid an den Juden qualitativ einzigartig war, weil er potenziell noch das ungeborene jüdische Kind eingeschlossen hat. Auch die Idee, ein Volk vollständig auszurotten, ist etwas anderes als, schlimm genug, die Elite eines Volkes zu ermorden. Auf diesem Unterschied beharre ich – ohne damit das jeweilige individuelle Leid anderer auch nur im Geringsten mindern zu wollen.

Der Antisemitismus in Osteuropa ist offener als im Westen. Wie sollen wir damit umgehen? Ist das Sprechverbot, das das Abdrängen in die Latenz und hinter geschlossene Türen bewirkt, das richtige Mittel? Oder die offene Diskursschlacht?

Ein jegliches hat seine Stunde, heißt es im Prediger Salomo. In Deutschland gab es nach 1945 eine jahrzehntelange Latenzphase des Schweigens, die sowohl aufseiten der Opfergeneration als auch auf Seiten der Beteiligtengeneration vermutlich unvermeidlich war. In Osteuropa ist die Lage anders. Man muss und kann die Osteuropäer mit ihrem jahrhundertealten, oft christlich gefärbten Antisemitismus konfrontieren. Bei einem deutsch-polnisch-jüdischen Dialog 2002 hat ein polnischer Jude gefragt, warum in den zahlreichen katholischen Buchläden heute noch antisemitische Literatur verkauft wird. Die Verkäufer wüssten halt nicht, was sie da verkaufen, lautete die Antwort von katholischer Seite. Es wurde also noch nicht einmal bestritten. So etwas darf es in der EU künftig nicht geben.

Nun gab es die Debatte um den Fall Jedwabne, wo Polen an Judenmorden beteiligt waren. Ist es nicht günstiger, sich in solche bereits existierenden Debatten einzuklinken, als von außen zu sagen, wo es langgeht?

Doch, sicher. Wenn man als besserwisserischer Lehrer von außen auftritt, wird das wenig nutzen. Man kann historisches Bewusstsein nicht erzwingen. Der Weg wäre also eher, über die EU-Kommission zu vermitteln, an die aufklärerischen europäischen Traditionen zu appellieren und daran anzuknüpfen. Das ist ein langfristiges Projekt, das über Lehrpläne etc. funktioniert und vermutlich mindestens eine Generation dauern wird. Ich glaube nicht an befehlbare Aufklärung. Das würde dem „Sei spontan“-Paradox entsprechen. Sie können nicht anordnen: Seid im europäischen Sinne aufgeklärt.