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Archiv-Artikel

Auf ein Glas Zipuro nach Mesohoria

Wenn nächstes Jahr im August die Olympiade in Athen beginnt, werden die Spiele ohne die Griechen auskommen müssen. Denn jeden Sommer reisen fast alle Athener zurück in ihre Heimatdörfer. Eine Reise in den Kosmos eines euböischen Dorfes, wie es ihn so bald nicht mehr geben wird

Wirft man einen Blick zum Himmel, wird klar, die Nächte haben hier mehr Sterne. Lautstark, weil sie schlecht hören, erzählen sie von früher und von heute

von RICHARD FRAUNBERGER

Athen ist fantastisch, einfach grauenvoll! Teller bersten auf dem Boden, und Nelken fliegen auf die Bühne. Das ist Kefi, ein Zustand, in dem es vor unbändigem Tanzgefühl in Busuki-Lokalen kein Halten mehr gibt. Hier geht man nicht aus. Hier wird das Nachtleben zelebriert, so scheint es. Vielleicht liegt das daran, dass die planlos wachsende Metropole sich tagsüber für vier Millionen Einwohner nicht eignet. In der Antike wurden den Göttern Tieropfer dargebracht. Heute opfert man eine Stadt dem Autoverkehr. Nonchalante Parkgewohnheiten lassen zwischen Hauswand und Auto nicht einmal Platz zum Gassigehen. In Athen, dem Symbol für den Aufbruch in die Moderne, verbringen die Bewohner ihre Zeit meistens mit einer Hand am Schalthebel und der anderen am Lenkrad. Damit Olympia nicht im Stau stecken bleibt, hat man die Spiele auf August 2004 gelegt. Denn wenn im August Ferien anstehen, packen die Athener ihre Koffer und fahren fluchtartig dorthin, wo sie herkommen – ins Dorf. Zurück bleibt eine leere Hauptstadt.  An Publikum wird es trotzdem kaum mangeln. Die meisten Griechen werden allerdings nicht auf den Zuschauerrängen der Stadien sitzen, sondern zu Hause, im Dorf. Dort kann man den Horizont sehen, an den Bäumen die Jahreszeit ablesen oder einfach das Fenster zum Lüften öffnen. Ein Luxus, den man längst auch in Athen begriffen hat. Für einige Tage füllen sich dann die Dörfer, als seien sie Pilgerstätten. Sonst kommen gelegentlich nur die Gemüsehändler angefahren. Wie hier in Mesohoria, auf dem südlichen Euböa, einer Insel, die sich so eng ans Festland schmiegt, dass man sie leicht links liegen lässt. Das ist ihr Bonus, ohne den sie die harsche, widerspenstige Schönheit nicht hätte.

Mesohoria liegt zwischen der Ägäis und der Landstraße nach Karystos, am Rande eines Hügels. Neben einer Gruppe Disteln steht am Ortseingang ein von Rost zerfressener Toyota. Zypressen flankieren den Bach, Mandelbäume blühen. Auf der Platia, der Dorfmitte, befinden sich Kirche, Brunnen und ein Kaffeehaus mit Orangenbaum. In einer Stunde hat man alle Gassen, die Kirche und den Friedhof gesehen. Die Welt der vierzig versprengten Häuser ist zu Fuß schnell abgesteckt. Sie bedarf keiner Straßennamen, keiner Namensschilder an den Haustüren, so klein und übersichtlich ist sie. Für ihr Zentrum hingegen benötigt man einen Nachmittag und vier Gläser Zipuro.

Das Kaffeehaus ist die Achse, um die sich der Dorfkosmos dreht. Es ist Bar, Treffpunkt, Postamt, Rathaus, Fernsehraum, Zockerstube und Einkaufsladen in einem. Und letzte Zufluchtstätte, wenn man es zu Hause nicht mehr aushält. Ein graphitfarbenes Ofenrohr bahnt sich wie eine Installation den Weg durchs Lokal. Auf den Holzregalen stehen Instantnudeln und Waschpulver, und neben dem Tresen liegt Post für Panajotis. Sich als Fremder hinzusetzen und schweigsam am Kaffee zu nippen ist hier schlicht undenkbar, fast schon unhöflich. Also gibt es Zipuro, den einheimischen Branntwein, der kräftig den Magen heizt. Dann folgen die Fragen: „Wer bist du? Woher kommst du? Was machst du?“ Denn alles, was neu ist, fällt aus der Geometrie des Dorfkosmos und muss zuerst einer genauen Prüfung unterzogen werden, bevor es seinen Platz im System findet. Die meiste Zeit aber schauen die Männer aus dem Fenster, spielen Karten oder ereifern sich über das anstehende Golfplatzprojekt zwischen Stira und Mesohoria. Wenn es dunkel wird, trotten die Schafe in den Stall. Wirft man einen Blick zum Himmel, wird klar, die Nächte haben hier mehr Sterne. Nachts ist es so still, dass man verwundert aus dem Fenster schaut, um sich zu vergewissern, dass alle Häuser noch stehen.

Am nächsten Morgen passiert das, was in Dörfern eben so passiert: Jorgos hämmert im Hühnerstall, Kula hängt Wäsche auf, und Tassos parkt sein Moped mitten auf der Straße. Der Höhepunkt des Tages sind ein herzzerreißender Eselsschrei oder ein Fremder im Kaffeehaus. Gelegentlich kommt Kostas und schnitzt den halben Morgen Stöcke. Meistens aber sitzt er stundenlang auf der Treppe und schaut ins Leere. Bewegungslos, als habe er die eigene Existenz vergessen. Humpelt Sophia oder kommt Jorgos schnaufend vorbei, wacht er auf. Lautstark, weil sie schlecht hören, erzählen sie von früher und von heute, den Schmerzen in den Knochen. Oder von Maria, Kostas’ Frau. Kann sie an manchen Tagen nicht aufstehen, weint er. Geht es ihr gut, schimpft er. Ihre Sprache ist so einfach, wie es die Handgriffe des Lebens sind. Wenn sie müde vom Reden oder von der Sonne sind, gehen sie wortlos auseinander. Kostas ist 87 Jahre alt. Die Ziege, zwei Esel und seine Frau helfen, nicht zu ermüden, retten davor, für immer liegen zu bleiben.

Für das bisschen Abwechslung im dörflichen Leben sorgen fahrende Händler. In verbeulten Pick-ups kurven sie durch Dörfer, rufen aus Lautsprechern, was sie anzubieten haben: Zur Pyramide getürmte Plastikstühle, Sandalen, Gemüse, Fisch. Manche beschallen das Dorf mit Busuki-Musik, andere brüllen kämpferisch ins Megafon, als stünde die Evakuierung unmittelbar bevor. Und einmal im Jahr reist in einem klapprigen Fiat sogar der Einmannzirkus an. Ein kurioses Ereignis, zu dem sich das halbe Dorf neugierig versammelt. Abends wird gegenüber dem Kaffeehaus die Manege aufgebaut. Ein Tisch, ein Rekorder, vier Hunde. Der Mann, Zauberkünstler und Dompteur zugleich, lässt Münzen und Bierflaschen verschwinden, zaubert bunte Tücher aus dem Hemdsärmel und führt zum Abschluss vier zwergenhafte Hunde vor, die auf Vorderpfoten zur Musik tippeln.

Sophia, 94 Jahre alt, hat für solchen Zirkus wenig Zeit. Ihre schneeweißen Zöpfe hat sie unter einem gelbschwarzen Kopftuch versteckt. Ihre Beine sind so krumm, dass locker ein Eimer Ziegenmilch dazwischen Platz fände. Sie sitzt im Hof und näht. Näht sie nicht, dann wäscht, flickt, reinigt, bürstet, putzt, häkelt sie oder füttert die Hühner, Ziegen und Esel. Spricht sie von ihrer Schwester, glaubt man, Almiropotamos, ein Dorf um die Ecke, liege in den hintersten Wäldern Kanadas. So gegenwärtig ist ihr die Vergangenheit, in der man tagelang auf Eselspfaden zu Verwandten oder zum jährlichen Krämermarkt in Kimi zu Fuß gehen musste. Sophias Haus hat ein Zimmer, darin ein Bett, Tisch, Ofen mit Blechrohr und an der Wand das Foto ihres verstorbenen Mannes. Das Zimmer ist so einfach wie ihr Leben. Keine der alten Frauen kann lesen oder schreiben.

Aber man soll nicht glauben, man hätte ursprüngliches Dorfleben wie vor vierzig Jahren vor sich, nur weil alte Frauen traditionelle Kopftücher tragen und Männer stundenlang den Rosenkranz durch die Finger gleiten lassen. Handys piepsen auf den Feldern, Bauern eskortieren ihre Schafe in Pick-ups, und das Osterlamm dreht sich auf einem mikrochipgesteuerten Grillautomaten aus dem Praktiker.

Beinahe allen Dörfern auf Euböa fehlen die Kulissen herkömmlicher Griechenlandidylle. Es sind eher verrostete Zäune und verbeultes Wellblech über Schafställen, die das Bild prägen, als ultramarine Fensterläden und antike Tempelruinen. Da Strandleben nicht zur Dorftradition zählt und Euböa sich kaum zu vermarkten versteht, sind die Buchten weitgehend leer. Folgt man alten Eselspfaden, den Hauptstraßen früherer Zeiten, tun sich Buchten auf, von denen man aber noch lange nicht weiß, wie man zu ihnen hinkommt. Zugänglicher sind die zwei Strände Mesohorias. Nasse Kieselsteine glitzern bunt in der Sonne, als hätte jemand Edelsteine am Strand ausgesät. Das rhythmische Schwappen der Wellen spült auch die letzte Grübelei hinweg. Man spürt nur noch den Wind, hört nur noch das Meer. Auf dem 1.400 Meter hohen Ochi hält sich hartnäckig der Schnee. Strand, Edelsteine, Schnee – wozu nach Ko Phi Phi?

Leert sich Athen und stehen plötzlich dutzende von Zelten dort, wo man sonst allein zu schwimmen pflegt, empfehlen sich Streifzüge durch das bergige Hinterland. Mit etwas Glück kann man Landschildkröten im Gebüsch beobachten oder erschrocken vor einer Schlange stehen bleiben und ihr gebannt zusehen, wie sie akrobatisch eine Feldmaus durch ihren viel zu engen Rachen zwängt. Und im April gibt es stets ein Blumenfeuerwerk, das jeden Holländer vor Neid erblassen lässt. Lavendel, Anemonen, Klatschmohn, Veilchen und Kamille leuchten zwei Wochen lang in mediterran verschwenderischen Farben auf den Feldern.

An manchen Tagen ist es in Mesohoria wie in einem Werbefilm für kaltgepresstes Olivenöl: das Zirpen der Zikaden, die Olivenhaine, die Schieferdächer. Schafe trotten wie ein wogendes Getreidefeld in den Stall, zwei Männer spielen Tavli im Kaffeehaus. Das Pittoreske ist schön. Unter den Dächern lauert aber der Zerfall. Die Zukunft sieht alt aus. Denn die Kinder der Dimitris, Jorgos und Marias suchen nach Perspektiven, die das Dorfleben nicht bieten kann. Das Land stirbt aus. Im Epirus gibt es ganze Dörfer, die so verlassen sind wie Ferienanlagen nach der Saison. Wen wundert es, wenn auf manchen Dächern das Gras längst zu wachsen begonnen hat? Auch die Grundschule Mesohorias wird zum kommenden Schuljahr endgültig geschlossen. Kindermangel in einem Dorf, in dem Menschen mit Gehstöcken die Straße kreuzen.

Das Land bleibt der Inbegriff der Rückständigkeit, wo das Leben irgendwo zwischen Mittelalter und Moderne pendelt. Noch immer sind die Erinnerungen an die Sechzigerjahre lebendig, in denen Mesohoria im vorletzten Jahrhundert lag. Zuerst kam Strom, dann fließendes Wasser, die Straße, der Bus. Das Dorf wurde elektrifiziert, als Neil Armstrong 1969 seinen Fuß auf den Mond setzte.

In der Zwischenzeit ist auch Mesohoria im 21. Jahrhundert angekommen. Seit vier Monaten versucht man, die Dorfjugend auf das digitale Zeitalter vorzubereiten. Im Kulturhaus stehen drei neue Computer. Die sieben Kinder sollen lernen, wie man Festplatten formatiert und Metasuchmaschinen im Internet bedient. Nur an Lehrern mangelt es. Denn die wollen, wie könnte es anders sein, nicht in einem Zimmer zwischen Stall und Kaffeehaus unterrichten, sondern in Athen.

Einmal im Jahr steht jedes Dorf in Griechenland Kopf. Das ist die Zeit der Panijiri, das Fest des Schutzheiligen. Zu dessen Ehren wird die Kirche mit frischen grünen Zweigen geschmückt und die Dorfmitte zur Tanzfläche umgebaut. Abends nach der Messe werden Wein, Lamm und Pitabrot serviert. Sind die zwei Musiker aus dem Nachbardorf angekommen und pfeift keine Rückkopplung mehr aus den Lautsprechern, geht es los. Selbst Kleinkinder versuchen sich im kniffligen Zwölferschritt. Hin und wieder klatscht ein Mann dem Chefmusiker einen Euroschein auf die schweißige Stirn und flüstert ihm etwas ins Ohr. So bezahlt man ein Lied, das man bestellt und zu dem mit seinen Angehörigen zu tanzen man nun das alleinige Anrecht hat.

Wenn am darauf folgenden Tag nur noch zerknüllte Plastikbecher und Aufräumarbeiten auf der Platia an Panijiri erinnern, machen sich die Söhne und Töchter, Onkel, Tanten und Neffen auf den Rückweg nach Athen. Und während im Radio und Fernsehen über die Staus in der Hauptstadt berichtet wird, passiert bis zu den nächsten Feiertagen in Mesohoria das, was in Dörfern eben so passiert: Jorgos hämmert im Hühnerstall, Kula hängt Wäsche auf und Tassos blockiert mit seinem Moped mal wieder den Weg.