Auf diesen Stangen können Sie bauen!

Architektur für alle: Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Ersatzstadt“ entsteht auf einem Grundstück vor der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz eine Work-in-progress-Konstruktion, an deren Bau jeder mitwirken darf

Gestern ist die Gerüstbaufirma vorgefahren. Mit einem Lkw voller Stangen und Metall ist sie vor die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz gefahren, die Männer sind ausgestiegen und haben mit der Arbeit begonnen. Wenn sie mit ihrem Gestell fertig sind, kommen die Studenten und bauen weiter. Und mit ihnen die Künstler, Nachbarn, Buchhändler, Kinder, Anwohner, die Arbeitslosen, Musiker, Architekten und wer sonst noch alles will.

Die Menschen bringen Holz mit und Werkzeug und Möbel. Was genau sie damit bauen, kann man noch nicht sagen, denn das Projekt trägt den bezeichnenden Namen „Hier entsteht“. Aber es gibt einen Bauplan: Verbaut werden soll demnach eine 200 Quadratmeter große Fläche auf vier Meter 50 Höhe.

Die Terrasse ragt über das Dach des kleinen Glaspavillions neben der Volksbühne, sie ragt in die Straße hinein, ein riesiges Ding. „Die Fläche steht über der normalen Stadtstruktur und es ist unser eigenes Grundstück“, erklärt Projektleiter Jesko Fezer.

Zusammen mit Studenten von der Universität der Künste hat er sich die Sache ausgedacht: „Ein Grundstück, in das man Nägel hämmern kann und Schrauben hineindrehen.“ Bis zum 12. Juli soll das Bauwerk stehen bleiben. Es gehört zur derzeit an der Volksbühne laufenden Veranstaltungsreihe „Ersatzstadt“.

Die „Ersatzstadt“ hat in den letzten Monaten bereits ein angenehmes Radioprogramm, einen Bombay-Abend und ein Istanbul-Wochenende initiiert. Bei „Hier entsteht“ soll nun ein temporärer Raum geschaffen werden, der für alle ungeplanten Aktivitäten zur Verfügung steht, sagt Jesko Fezer. Vielleicht wird daraus eine Budenstadt. Vielleicht wird dort ein Garten angepflanzt, ein Club betrieben und ein Sonnenstudio eröffnet, vielleicht ein Dusch-Center installiert, eine Tischtennisplatte und eine Suppenküche aufgestellt. Alles ist noch ein bisschen unklar in der ersten Bauphase. Aber im Pressetext zu „Hier entsteht“ ist ein Zitat des Architekten Giancarlo De Carlo von 1969 abgedruckt: „In reality architecture is too important to be left to architects.“ Und mit diesem schönen Satz lässt sich das Anliegen des Ganzen zumindest beschreiben.

Denn bei „Hier entsteht“ geht es um Strategien partizipativer Architektur. Alle Menschen sollen kommen und mitmachen. Sie sollen an ihrem eigenen Gebäude mitplanen und mitbauen. Und es soll um mehr gehen als nur um Bedürfnisbefriedigung.

Das ist eine gute Forderung, auch wenn sie nicht neu ist. Spätestens in den 60er-Jahren wurde sie formuliert, als der universelle Anspruch der modernen Architektur mit der Unterschiedlichkeit der Lebensformen zunehmend in Widerspruch geriet. Radikaldemokratische, anarchische, techno-utopische und reformerische Ansätze wurden damals populär und blieben es bis weit in die Achtzigerjahre: Bewohner renovierten ihre Häuser in Selbsthilfe, sie setzten ihre Wohnungen nach eigenem Geschmack aus Fertigteilen zusammen, strichen die Garagen bunt, legten Teiche an. Die Ergebnisse solcher emanzipatorischen Versuche kann man in Kreuzberg, Wien und Brüssel besichtigen.

„Trotzdem ist das eine verdrängte Geschichte“, meint Jesko Fezer. „Heute stellt sich eher die Frage, inwieweit die Flexibilisierung der Individuen der Ideologie des Neoliberalismus entspricht.“ Fezer hat daher gemeinsam mit seinen „Hier entsteht“-Kollegen für die Dauer des Experiments eine tägliche Vortragsreihe organisiert. Pioniere des partizipativen Bauens wie Lucien Kroll und Georg Knacke werden dort „Ökohaus“-Projekte vorstellen und Reden halten zu hübschen Themen wie „Homöopathische Architektur und tierischer Städtebau“. Am 5. Juli wird es dann einen Fernsehabend geben, der historisches und zeitgenössisches Material zu partizipatorischen und interventionistischen Modellen vorführt. Und damit der Bogen zur Gegenwart auch wirklich gelingt, haben die „Hier entsteht“-Organisatoren Fachleute wie den Raumfahrtexperten Florian Böhm eingeladen. Anhand von Beispielen aus der Mode- und Autoindustrie will Böhm zeigen, wie sich heutzutage in der computergesteuerten Massenproduktion Einzelstücke fertigen lassen, die ganz und gar auf den individuellen Kunden zugeschnitten sind.

Das klingt nach großem Theorieprogramm. Wer es lieber komprimiert mag, kann sich zu Hause aus dem Internet auch eine MP3-Datei herunterladen: Das Stück „Architecture & Morality“, komponiert von der Gruppe „Orchestral Manoeuvres In The Dark“. Das Musikstück soll „zersägt“ oder in irgendeiner anderen Form bearbeitet werden, und die neuen Soundvarianten sollen mitgebracht und dann am 12. Juli, dem Tag der Love Parade, vor Ort am Volksbühnen-Pavillion vorgespielt werden.

Und was noch? Zum Freizeitteil von „Hier entsteht“ wird auch die stadtbekannte mobile „Flittchenbar“ gehören. Und vielleicht kommt es ja so weit, dass die „Hier entsteht“-Reihe zu einer dieser Sommerveranstaltungen wird, wo die Menschen viele Stunden auf Baugerüsten und Bürgersteigen sitzen und sich sehr wohl fühlen dabei.

KIRSTEN KÜPPERS

Weitere Informationen unterwww.ersatzmedia.info