: Präsent ohne Präsens
Was die Deutschen in Osteuropa für immer zerstörten: Edgar Hilsenraths Bukowina-Roman „Jossel Wassermanns Heimkehr“
VON JAN SÜSELBECK
Edgar Hilsenrath ist zwölf Jahre alt, als er 1938 mit seiner Mutter und seinem jüngeren Bruder aus dem antisemitischen Deutschland nach Rumänien flüchtet. Die Einreisevisa in die USA hat man ihnen verweigert. Glücklich retten sie sich in das Bukowina-Städtchen Sereth. Doch es gibt kein Entkommen: Die Rumänen deportieren sie 1941 ostwärts. Nach einer wochenlangen Irrfahrt durch Bessarabien ist Endstation am Fluss Dnjestr. Hilsenrath, seine Mutter und sein Bruder gehören später zu den nur 5.000 Überlebenden des Ghettos von Mogilev-Podolski, wo bis 1944 25.000 Juden an Hunger, Kälte und Seuchen sterben mussten.
In der von Helmut Braun besorgten Hilsenrath-Werkausgabe im Dittrich Verlag ist jetzt der 1993 geschriebene Roman „Jossel Wassermanns Heimkehr“ erschienen. Er erzählt vom Leben in der Bukowina. Der autobiografische Kontext des Buches ist offensichtlich: Im Schtetl Sereth erlebte Hilsenrath eigenen Angaben nach die glücklichste Zeit seines Lebens. Hier gab es für den Jungen plötzlich keinen Naziterror mehr, keine antisemitischen Hetzplakate, keinen alltäglichen Hass in der Schule: „Hier in der Bukowina, in diesem kleinen osteuropäischen Ort, fühlte ich mich zum ersten Mal frei von den Bedrohungen der Nazis“, zitiert Braun den Autor in seinem Nachwort.
Dennoch fragt man sich, ob der Schoah-Überlebende Hilsenrath hier wirklich einen ungebrochen „kraftvollen und lebensprallen“ historischen Schmöker über die gute alte Zeit der k. u. k. Monarchie schreiben wollte, wie der Klappentext insinuiert. Zu Beginn des Buches steigen die Juden des polnischen Grenzstädtchens Pohodna in einen Viehwaggon. Manche von ihnen ahnen, wohin die Reise geht. „Sie fuhren in östlicher Richtung. Der Osten liegt dort, wo die Sonne aufgeht, auch wenn es zum letzten Mal ist.“ Nachdem der Zug abgefahren ist, verwehen ihre Spuren im Schnee. Auch der Rabbi, der mit seiner Familie als Erster in den Zug eingestiegen ist, denkt über diese Spuren nach: „Aber die Zeit würde sie allmählich verwischen, und es würde nichts zurückbleiben. Nichts.“
Die Szene ist Chiffre für das definitive Verschwinden von unzähligen Geschichten, die keinen Erzähler mehr finden werden. Hilsenraths Roman erinnert an die Unmöglichkeit, das zu fassen, was die Deutschen in Osteuropa für immer vernichteten. Wohin also mit dieser unerzählt gebliebenen Geschichte, die dennoch bewahrt werden muss? Hilsenrath lässt sie personifiziert auf dem letzten Waggon des Deportationszugs hocken. Dort kommentieren ihre geisterhaften „Quasselstimmen“, was unter ihnen geschieht: in einem Zug voll Menschen, den man auf dem Abstellgleis „vergessen“ hat. „Und die Quasselstimmen erzählten, wie die Juden ihre Notdurft verrichteten, manche im Sitzen, aber die meisten im Stehen. […] Auch das Wasser wurde knapp in den Waggons, obwohl das nicht schlimm war, denn es war erst der zweite Tag.“ Doch am Ende, wenn die Rahmenhandlung den Kreis der Erzählung schließt, ist die Woche voll: „Der siebente Tag war der Sabbat. ‚Es könnte sein, dass die Welt auch in sieben Tagen untergeht‘, sagte der Wind. ‚Und morgen ist der siebente Tag.‘ “
Dieser märchenhafte, fast begütigende Ton, mit dem Hilsenrath seine verschiedenen Erzählerstimmen über das Schreckliche sprechen lässt, konterkariert ein Grauen, das sich selbst dem nachträglichen Begreifen Überlebender entzieht. „Die Stimmen der Geschichtsschreibung aber gähnten vor Langeweile und rieben sich den Schlaf aus den Augen“, schreibt Hilsenrath. So ist es wohl, wenn eine ganze Kultur vernichtet wird, während im Rest der Welt der Alltag einfach weitergeht.
Dies ist das poetologische Problem, dem sich der Autor Hilsenrath als der Schoah Entronnener stellt. Seine Dialoge erinnern oft an die von Kinderbüchern. Das gleicht dem Kunstgriff, den Imre Kertész in seinem Auschwitz-Buch, dem „Roman eines Schicksallosen“, gewählt hat. So trifft auch auf Hilsenrath zu, was Jan Philipp Reemtsma über Kertész’ merkwürdig inadäquaten Ton schreibt: „Wir sind stets unmittelbare Zeugen des Geschehens, und doch ist die Geschichte aus der Distanz berichtet, als sähe man einen Dokumentarfilm, der gewisse Altersspuren zeigt – präsent, kein Präsens.“
Hilsenraths Protagonist, der Matzebrotfabrikant Jossel Wassermann, regelt seine beachtliche Erbschaft, bevor er friedlich im Schweizer Exil stirbt. Es ist der Tag vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs: der 31. 8. 1939. Und Jossel will dem Wasserträger Jankl, seinem letzten in Pohodna lebenden Verwandten, zusammen mit dem gesamten Dorf sein Vermögen vermachen. Dafür verlangt er, dass der dortige Thoraschreiber nach der Überführung seines Leichnams seine Lebensgeschichte notieren und aufbewahren soll. Wassermann diktiert sie den am Sterbebett sitzenden Sekretärinnen seines Notars und seines Rechtsanwalts. In beschwingtem Plauderton erzählt er nicht nur aus seinem Leben, sondern auch von der Geschichte seiner Heimat, der östlichsten Grenzprovinz der Donaumonarchie. Damit entfaltet sich ein grandioses historisches Panorama des kulturellen Lebens in der Bukowina. Es sind Geschichten aus der Zeit, bevor diese über Jahrhunderte gewachsene Vielvölkerwelt von Juden, Sinti und Roma, Ukrainern, Rumänen und Deutschen ein jähes Ende fand.
Die Juden waren im russischen Grenzgebiet seit je auf der Flucht vor Verfolgung, Gewalt und Pogromen. Wassermann erzählt also nicht nur von der Idylle, sondern auch vom frühen Hass, Mord und Totschlag, der das unvergleichliche Überlebens-Know-how der Juden von jeher prägte. Wo sie in Europa auftauchten, machten sie aus Nichts Kultur und belebten Handel und Städte. „Wir Juden hoffen immer“, heißt es zum Ende des Buchs: „Wäre es anders, dann wären wir keine Juden.“
Wassermanns Erinnerungen ziehen den Leser in einen eigentümlichen Erzählrhythmus hinein, ohne dass Hilsenraths Roman damit in die dumpfen Sphären eines trivialen Historienromans hinabsänke. Hier lässt sich viel über das Ostjudentum, seine Bräuche und Feste lernen. Wie Reb Feigenbäum das Christentum charakterisiert, das möchte man am liebsten mehrmals lesen: Sie machten sich Bilder von ihrem Messias, weil sie keine Fantasie hätten, erzählt der thorakundige Lumpensammler dem jungen Jossel. Außerdem habe ihr Messias überhaupt keinen Frieden gebracht: „ ‚Die wollen ihn gar nicht‘, sagte Feigenbäum, ‚Die wollen ihn erst im Himmel.‘ “ Die Christen seien sogar Leute, „die von der Nächstenliebe reden, aber gar nicht wissen, was Nächstenliebe ist“. Die Geschichte gibt ihm Recht: Feigenbäum erzählt von den christlichen Judenverfolgungen und dem mittelalterlichen Hexenwahn.
Nicht nur vergangenes Unheil, sondern auch die kommende Apokalypse kündigt sich im Text immer wieder an. So erzählt Wassermann über den im 18. Jahrhundert aufflammenden Judenhass: „ ‚Und eines Tages‘, sagten die Popen und Pfaffen, ‚da wird ein großes Feuer ausbrechen, und man wird einen großen Ofen bauen oder viele Öfen. Und dort werden sie brennen und schmoren bis zum Jüngsten Tag.“ Ähnlich Düsteres geschieht auch im Jahre 1866, als eine riesige schwarze Wolke über den Fluss Pruth nach Pohodna kommt – Millionen von Heuschrecken, die wie eine biblische Plage über das Land herfallen. „Und da der Tod viele Gesichter hat und viele Werkzeuge und auch Bilder erzeugen kann, sah der Wunderrabbi eine schlammige Judengasse, eine der Zukunft, und auf der Judengasse lagen Judenhüte herum. Und zerrissene Gebetbücher. Und zerbrochene Brillen. Und Gebetsmäntel. Und überall war Blut.“ Nicht zufällig ist es das Jahr, in dem Preußen den Krieg gegen Österreich gewinnt. Zwar war auch das habsburgische Kaiserreich alles andere als judenfreundlich – doch nun wuchs eine neue Großmacht heran, die, man ahnte es in der Bukowina, ganz andere Saiten aufziehen würde: „Denn in Berlin herrschte ein anderer Geist als in Wien, wo man lieber im Kaffeehaus saß, Karten spielte oder Mehlspeise aß.“
Hilsenraths Roman gelingt die schwierige Gratwanderung zwischen der Schilderung einer verflossenen glücklichen Zeit voll Hoffnungen und der Einbeziehung des Wissens um ihre definitive Zerstörung. Das Paradox des Textes ist es, dass Wassermann seine Geschichte vergeblich erzählt. Denn der Thoraschreiber von Pohodna wird sie nicht mehr aufschreiben können. Er wird zusammen mit sechs Millionen Juden umgebracht. Wir allerdings können sie trotzdem lesen. Weil Edgar Hilsenrath sie aufgeschrieben hat.
Edgar Hilsenrath: „Jossel Wassermanns Heimkehr“. Dittrich Verlag, Köln 2004, 300 Seiten, 19,80 Euro