Ravend erinnern

Der libanesische Architekt Bernard Khoury baut in seiner Heimatstadt Beirut Discotheken und Restaurants, die sich dann als ungeheuer intelligente ephemere Memorialbauten erweisen, die das Trauma des Bürgerkriegs zu transformieren vermögen

Bei Khoury tanzt die Beiruter Jeunesse dorée auf dem Platz eines MassakersDas rostende Dach wirkt wie übrig gebliebenes Kriegsgerät

von THOMAS FITZEL

Sauberkeit und Sicherheit würden nicht gewährleistet sein. Dieses Argument fiel häufig als Einwand gegen Peter Eisenmans Holocaustdenkmal. Vandalismus und nächtliche Gewalttaten fürchtete man. Eine Befürchtung traute man sich erst gar nicht anzusprechen: dass man sich dort vergnügen könnte, dass Jugendliche diesen Platz als geile Location für sich entdecken, Ghettoblaster auf die Erinnerungsstelen packen und zum nächtlichen Abraven kommen könnten.

Der Beiruter Architekt Bernard Khoury verbindet nun genau die Strukturen einer Mahnmals- und Erinnerungsarchitektur mit dem Profitinteresse der Unterhaltungsindustrie – bei ihm tanzt die Beiruter Jeunesse dorée auf dem Platz eines Massakers – und sieht gar keinen Widerspruch darin. Auf einer Podiumsdiskussion im Berliner Haus der Kulturen der Welt darauf angesprochen, sagte er: „Nicht ich bin zynisch, sondern die Gesellschaft, in der ich lebe, und ich bin ein Teil von ihr. Ihr seid glücklich, ihr könnt hier über Erinnerung debattieren. In Beirut könnte ich niemals einen Vortrag darüber halten, kein Mensch würde mir je zuhören, also don’t give me a fuck!“

Bernard Khoury wurde 1968 in Beirut geboren. Wie viele seiner Generation verließ er das Land und ging 1986 zum Studium in die USA. Nach dem Bürgerkrieg (1975–1990) kehrte er zurück, wollte in Beirut bauen und scheiterte zunächst. Fünf Jahre lang konnte er kein einziges Projekt realisieren. Und dies, obwohl ein wahrer Bauboom herrschte. Beirut sollte wieder das „Paris des Nahen Ostens“ werden. Anfangs versprach man sich viel von der privaten Immobiliengesellschaft Solidère, die 1991 einen Masterplan für die Innenstadt ausgearbeitet hatte. Doch Solidère schuf vor allem eine Tabula rasa, ohne Rücksicht, weder auf die Bewohner, die man enteignete, noch auf die historisch gewachsenen Strukturen oder die Bauzeugnisse aus osmanischer, römischer und noch älterer Geschichte. Bernard Khoury kritisiert, dass die Architekten von Solidère sich mit ihren historisierenden Entwürfen eines levantinischen Disneylands ausschließlich auf die koloniale Architektur der Zwanziger-, Dreißigerjahre beziehen und somit die Erfahrungen des Bürgerkrieges, der auch seine Jugend prägte, komplett negieren. Er entwarf daher einige begleitende Projekte für diesen radikalen Stadtumbau. In Evolving Scars (Wachsende Narben) sollten die Schuttreste eines Hauses kontinuierlich mit seinem Abriss in einem „Erinnerungskollektor“ gesammelt werden. Die Grenzlinien der verfeindeten Milizen, die die Stadt durchschnitten, wollte Khoury durch ein System von Checkpoints sichtbar und wieder erlebbar machen. Doch er scheiterte mit dieser Planung.

Seine Chance erhielt er, als ihn sein Cousin Nagi Gibrane fragte, ob er für ihn eine Diskothek bauen wolle, den Club B 018. Der Name bezog sich auf die Hausnummer seines ehemaligen Musikstudios im christlichen Osten Beiruts. Während der Bombardements wurde dort die Musik so laut aufgedreht, bis sie das Kriegsgetöse übertönte. „Musiktherapeutische Sitzungen“ hießen diese Nächte. Der Platz im Viertel Quarentine wurde ausgewählt, weil er als Brachland billiges Bauland darstellte. Die Franzosen hatten in der Kolonialzeit hier die Quarantänestation errichtet, daher der Name des Viertels. In den Zwanzigerjahren wurde es zum Flüchtlingslager, erst für Armenier, später für Palästinenser. 1976 verübten hier die christlich-maronitischen Milizen ein Massaker an den palästinensischen Flüchtlingen.

Auf dem Weg zum B 018 kommt man an der Möbelfabrik Sleep Comfort vorbei. Dort befand sich eines der Folterzentren der Forces Libanaises. Noch in der Struktur erkenne man diese Geschichte, erklärt Khoury in einem Gespräch vor seiner Ausstellungseröffnung im April in der Berliner Architektur-Galerie Aedes. Eine Schnellstraße markiert die damalige Grenze, den Verlauf der Mauern des Flüchtlingslagers. Jenseits der Schnellstraße findet man eine hoch verdichtete Bebauung, auf der anderen Seite, zur Küste hin, dagegen auffallende Leere. Niemand wollte nach dem Massaker hier wohnen oder bauen. Das Flüchtlingslager wurde dem Erdboden gleichgemacht, es blieb nur eine dreieinhalb Meter hohe Schuttschicht übrig.

Konsequenterweise versenkte Khoury den Club B 018 in die Erde. Nur das stählerne Dach ist auf dem kreisförmigen Platz erkennbar. Die Besucher müssen einen klaustrophischen Gang wie in einen Bunker hinabgehen und blicken durch Schießscharten in den Raum. Khoury selbst hält nichts von hochtrabenden Deutungen. Aber hier ereignet sich so etwas wie ein Eingedenken an die traumatischen Erlebnisse des Bürgerkriegs. Das Dach lässt sich jedoch öffnen und die Besucher stehen plötzlich wieder im Freien unter dem Sternenhimmel. So ist der Club am Tage ein toter Schachtdeckel und im Betrieb der Nacht eine glitzernde Muschel, aus deren geöffneter Schale Musik und Licht strahlen. Die verspiegelte Innenfläche des geöffneten Dachs reflektiert zudem das Licht der Scheinwerfer der Autos, die rund um die Betonscheibe des Clubs parken. Mit solchen Wechselspielen zwischen Enge und Weite, Verschlossenem und Offenem, oben und unten arbeitet Khoury. Das Dach rostet. Wie das übrig gebliebene Kriegsgerät einer fremden Zivilisation wirkt es, roh und barbarisch das Material.

Auch um viele Details kümmerte sich der Architekt selbst, etwa um den Barhocker. Zwei Meter hoch endet er mit einer Art Helmaufsatz. Ungesehen kann der Gast sich betrinken, er fällt auch nicht um, da er sich an der Seitenschale mit dem Kopf anlehnen kann, doch wenn er sich umdreht, blinken auf dem Aufsatz Lichter und der einsame Trinker sieht sich erneut auf einer Bühne, seiner eigenen, exponiert. Khoury erfand auch die Sitze, die sich bei Platzmangel zu Tischen, oder besser kleinen Podesten, zusammenklappen lassen. Die ersten Besucher hätten dies auch ohne Bedienungsanleitung sofort verstanden und darauf getanzt.

Typisch für Beirut sei daran die exhibitionistische Lust, sich darzustellen, denn hier tanzt und feiert eine Generation, die im Bürgerkrieg aufwuchs und jetzt endlich das Leben genießen will. Aber niemand kann hier drinnen vergessen, erzählt Andrée Sfeir-Semler, eine in Hamburg lebende Galeristin, auch wenn man trinkt und tanzt. Manche kommen extra an diesen Ort, wo ihre Angehörigen von den Milizen umgebracht wurden. Andere wiederum, deren Angehörige von Palästinensern entführt worden waren und für immer verschwanden, kommen in der Hoffnung, ihnen hier nahe zu sein. So hat ganz Beirut jenseits aller alten politischen und religiösen Trennungen hier seinen Ort gefunden. Wenn noch keine Gäste da sind, wirken die zusammengeklappten Tische wie aufgebahrte Särge. Auf ihnen stehen Fotografien, davor Rosen und Kerzen. Aber nicht Märtyrer sind darauf zu sehen, wie man erwarten würde, sondern Billie Holiday, Um Kalthoum, Charlie Parker und andere Musikerikonen.

Für den B 018 erhielt Bernard Khoury die Ehrennennung beim ersten Premio Borromini. Er plant schöne und optimistische Bauten, aber versteckt dabei nicht die obszönen Widersprüche der Beiruter Gesellschaft, im Gegenteil, er stellt sie in aller Grellheit aus und überhöht sie theatralisch. Auf den kreisförmig um den Club angelegten Parkplätzen fährt man in einer möglichst eindrucksvollen Limousine vor. Der Wächter parkt dann das jeweils schönste und teuerste Auto am nächsten zum Eingang und stellt so sichtbar für alle die Hierarchie her. Viele, wahrscheinlich jene, die es sich nicht leisten können, den Club zu besuchen, erzählt Khoury, kommen hierher, nur um sich diesen „Zirkus“ anzuschauen.

Nicht weniger theatralisch sind die beiden von ihm entworfenen Restaurants, Yabani, ein japanisches Restaurant, sowie das Centrale, ein denkmalgeschütztes traditionell libanesisches Wohnhaus, das er im Auftrag von Solidère rekonstruieren sollte. Zur Stabilisation und zum Schutz der Fassade umgab er das Haus mit einer Gitterkonstruktion, die er auch nach Abschluss beibehielt, was ihm erlaubte, die originale Fassade zu zeigen. Sie bröselt, aber das Drahtgeflecht hält dennoch den Putz. Ansonsten entkernte er das Haus komplett, übrig blieben nur Erd- und Dachgeschoss.

Es ist wohl das exklusivste Restaurant der Welt, denn, wie Andrée Sfeir-Semler einräumt, die Lust am Essen könne einem dort vergehen, was sein Auftraggeber natürlich nie erfahren dürfe, ergänzt ein grinsender Khoury. Es beginnt mit dem ungemütlichen stacheldrahtumzäunten Weg dorthin. Dann sitzt der Gast an einem schwarzen Konferenztisch für maximal 34 Menschen in ebensolchen schwarzen Konferenzsesseln. Gespräche sind nur mit dem jeweiligen Nachbarn links und rechts möglich. Für Beirut eine ganz und gar ungewöhnliche Situation. Ein Lämpchen an jedem Platz, das an ein Mikrofon erinnert, beleuchtet grell die weißen Teller. Die Kellner steigen aus einer Öffnung von der darunter liegenden Küche nach oben. Die Tafel umschließt sie lückenlos. „Die Gäste fragen sich hier natürlich“, so Sfeir-Semler, „warum sie an diesem absurden, albtraumartigen Konferenztisch sitzen, und fühlen sich überhaupt nicht geborgen, sondern ständig irgendwie unruhig und beobachtet von jemand, den sie nicht sehen können.“ Zehn Meter misst die lichte Höhe in diesem Raum. Dem verschwiegen düsteren Konferenzsaal ist die Bar auf dem Dach entgegengesetzt. Sie ist in eine zylindrische Stahlhülle eingebettet, die sich drehen und wie eine Observatoriumskuppel öffnen lässt.

Das japanische Restaurant Yabani behauptet sich dagegen als glatt poliertes Monument genau auf der ehemaligen Demarkationslinie zwischen Ost- und West-Beirut in einer verwüsteten Umgebung. Gleich nebenan steht ein Mietshaus mit aufgerissener Fassade, in dem nach wie vor Flüchtlinge leben. Selten prallen Reichtum und Armut so schonungslos und ungeschützt aufeinander. Der Gast kann zwar unter Ausblendung dieser Umgebung hier sein Essen genießen, er sitzt wieder einmal unterirdisch; aber jeder, der sich dazu entschließt, muss sich als Neueintreffender von den bereits anwesenden Gästen kritisch betrachten lassen, denn ein gläserner Fahrstuhl bringt ihn aus dem oberirdischen Turm, in dem die Rezeption untergebracht ist, hinab in die Mitte der kreisförmig ausgerichteten Tische.

Khoury traf mit seinen Gebäuden in Beirut einen Nerv. Das könnte er auch in Deutschland, wo die Erinnerungsspezialisten schon viel zu lang ihre Debatten ausschließlich in geschützten Räumen führen. Die Bewährungsprobe für ihre bequemen Gewissheiten wäre die Erfahrung einer raueren Wirklichkeit, wie sie ihnen Bernard Khoury voraushat.