: Fragile Sprache
Angst besetzt intimste Dinge, Leben wird Ermessenssache des Staates: Herta Müller liest aus ihren Essays
Die Wiese ist zu groß und zu grün, der Himmel zu weit und zu blau – auf der Wiese das Kind, allein, das fürchtet, entweder vom Himmel oder der Erde verschluckt zu werden. Das ist die Kinderangst Herta Müllers. Sie kommt mit in die Stadt, als die 15-Jährige der Enge des banatschwäbischen Dorfes in Rumänien den Rücken kehrt, wandelt sich zu einer allgegenwärtigen Bedrohung; hier herrscht der rumänische Geheimdienst.
Die Angst besetzt die Dinge, frisst sich in den Blick – und in die Versuche, Sprache zu finden für eine von jeder Selbstverständlichkeit entkleideten Wirklichkeit. „Die inneren Bereiche decken sich nicht mit der Sprache, sie zerren einen dorthin, wo sich Wörter nicht aufhalten können.“ Vom Wunsch, das Unsagbare dennoch sagbar zu machen sind die Texte in Müllers neuem Buch Der König verneigt sich und tötet durchdrungen, aus dem sie auf Einladung von Literaturhaus und Literaturzentrum ebendort lesen wird.
Als eine Art intime Poetologie lassen sich die neun Essays lesen: Die Sprachfindung Müllers speist sich aus konkretem Erleben, nicht aus theoretischen Herleitungen. So nimmt die Autorin die LeserInnen mit in das Dorf ihrer Kindheit. Viel Trostlosigkeit, viel Schweigen. Wenn man spricht, dann in einem deutschen Dialekt. Das kindliche Fühlen und Denken heftet sich an die Dinge und probiert andere Namen für sie aus, als die bekannten. „In jeder Sprache sitzen andere Augen“: Erst in der Stadt lernt Müller Rumänisch und die anderen Worte geben der Welt andere Bedeutungen. Nichts aber verändert den Blick so sehr wie die Todesangst. Sie ist allgegenwärtig, sie nistet sich ein im Selbst und höhlt es aus.
Die verbleibende Lebenszeit eine Ermessenssache des Staates. Nichts ist, wie es zu sein vorgibt: ein Unfall ist ein Mordversuch, ein Selbstmord ein Mord. Und die intimsten Gegenstände werden unheimlich, wenn die Geheimdienstler in Müllers Abwesenheit in die Wohnung eindringen und durch das Verrücken von Möbeln oder das Verlegen kleiner Dinge ihre Allmacht demonstrieren. Aus diesem gewaltsamen Entzug jedweder Vertrautheit resultiere der „fremde Blick “, den ihr die hiesige Literaturkritik so gern als stilistische Besonderheit attestiere und ihrer Herkunft zuschreibe. Als selbstgefällige Verkennung weist die Autorin diese Deutung ebenso entschieden zurück wie die daraus resultierende Forderung, sie, die seit 1987 in Deutschland lebt, möge von der Vergangenheit lassen. Die Todesangst ist fort, aber die Beschädigung ist nicht „abzuschließen“.
Angesichts einer durch die Erfahrungen der Diktatur verzerrten Wirklichkeit ist die Sprache besonders fragil. Als Mittel der Selbstvergewisserung ist sie umso notwendiger. In diesem Spannungsfeld ringt Müller um die Annäherung an das Unsagbare, um wahrhaftige Sätze. Das Buch selbst ist beeindruckendes Beispiel dieser Arbeit: Eine poetisch dichte und durchsichtig klare Sprache. Schillernd, ohne je den Schrecken vergessen zu machen. Carola Ebeling
Herta Müller: Der König verneigt sich und tötet. München/Wien 2003, 203 S., 17,90 Euro. Lesung: Donnerstag, 13.5., 20 Uhr, Literaturhaus/Literaturzentrum, Schwanenwik 38