: Identität aus der Vergangenheit
Caral, die Pyramidenstadt nördlich von Lima, ist national und international kaum bekannt. Dabei könnte sie nicht nur der berühmten Inkastadt Machu Picchu Konkurrenz machen, sondern auch dem Selbstwertgefühl einer ganzen Nation einen gehörigen Schub verleihen
Lima wird von zahlreichen internationalen Fluggesellschaften wie KLM oder Lufthansa angeflogen. Der internationale Airport Jorge Chávez wurde in den letzten Jahren zu einer regionalen Drehscheibe ausgebaut. Flüge gibt es ab etwa 800 Euro.
Caral liegt etwa zwei Fahrtstunden nördlich von Lima. An Kilometer 184 der legendären Panamericana biegt man in Richtung Supe-Ámbar ab und hat dann noch 23 Kilometer auf staubigen Pisten vor sich.
Alternativ kann man per Bus von Lima bis Paramonga fahren und sich von dort von einem der Taxifahrer in die Pyramidenstadt bringen lassen.
Geöffnet ist die Ausgrabungsstätte täglich von 9 bis 17 Uhr. Ausländische Besucher müssen einen Eintrittspreis von 2,50 Euro entrichten. Informationen im Internet auch auf Deutsch unter: www.caralperu.gob.pe
VON KNUT HENKEL
Gonzalo Rodríguez stapft zielstrebig durch den feinen Sand. Vor einer der Pyramiden in der Ruinenstadt Caral bleibt er stehen und deutet auf die steinerne Treppe, die die Pyramide hochführt. Dort oben, am Ende der Treppe, haben wir das kleine Knäuel gefunden, sagt er.
Die Treppe hatte man zugeschüttet, und als wir den Schutt beseitigten, um den Aufgang frei zu räumen, entdeckte jemand das kleine Paket, erinnert sich der Archäologe mit dem dichten dunkelbraunen Bart und dem beigen Schlapphut. Der soll ihn gegen die gleißende Sonne schützen, die im Tal von Supe vom Himmel brennt. In dem Tal, rund 180 Kilometer nördlich von Lima, befinden sich Perus derzeit wichtigste Ausgrabungsstätten – doch die Funde von Caral stellen alles andere in den Schatten.
Schon an den Feuerstellen haben wir Reste von Baumwolle und Muscheln gefunden, die damals geopfert wurden, doch das unscheinbare Knäuel war ein echter archäologischer Volltreffer. Bereits zuvor wussten Rodríguez und Ausgrabungsleiterin Ruth Shady, dass sie einer alten Hochkultur auf die Schliche gekommen sind, doch wie weit die Bewohner Carals wirklich entwickelt waren, darüber gab erst das unscheinbare Bündel aus der Pyramide Aufschluss.
Es enthielt den Beweis dafür, dass die Stadt, die wir peu à peu ausgraben, die bei weitem älteste Stadt Amerikas ist, erklärt Ruth Shady und lächelt stolz. Die schlanke Frau mit der leisen Stimme fand in dem Knäuel neben Sandalen, Federschmuck und mehreren Flöten einen Quipu. Für Laien ist der aus Baumwollfäden unterschiedlicher Länge und mit zahlreichen Knoten versehene Quipu nicht viel mehr als ein schmutzigbraunes Wollknäuel. Die Knoten sind jedoch fein säuberlich geknüpfte Worte und stehen für eine der ältesten Schriftsprachen der Welt. Niemand hatte bis zu jenem Tag Mitte April 2005 vermutet, dass die Knotensprache so alt sein könnte.
Vor 5.000 Jahren, so haben die Laboruntersuchungen ergeben, wurde der Quipu geknüpft, und er ist ein zentraler Beweis für die Existenz der ältesten Hochkultur auf dem Kontinent – die von Caral. Die Pyramidenstadt ist demnach rund 1.400 Jahre älter als die Siedlungen der Olmeken am Golf von Mexiko und steht auf einer Stufe mit den Ur-Zivilisationen von Ägypten, Mesopotamien oder China. Eine kleine Genugtuung für die peruanische Archäologin, die acht Jahre nahezu betteln musste, um öffentliche Förderung für die Ausgrabungen zu erhalten.
Gleichwohl steht Caral auch weiterhin im Schatten von Machu Picchu und der berühmten Inkakultur. Die hat vom Wissen der Gelehrten aus der Pyramidenstadt Caral profitiert. Nicht nur die Bewässerungstechniken, sondern auch die Knotensprache wurde von den Leuten aus Caral übernommen, vermutet Dr. Shady. Bis dahin galten nicht nur die Quipu als fundamentaler Bestandteil der Inkakultur.
Bis 1994 lag Caral unter Unmengen von feinem Sand und Felsgeröll verschüttet. Damals begann Dr. Shady mit den Ausgrabungen, und erst im Laufe der Jahre wurde der Archäologin der Stellenwert des Fundes klar. Teure Messungen konnten sich die peruanischen Archäologen anfangs nicht leisten, erst seit 2002 wird das Ausgrabungsprojekt von der Regierung in Lima finanziert. 2001 sponserten Privatpersonen die ersten Radiokarbon-Messungen. Sie ergaben, dass die Schilfsäcke, die mit Steinen gefüllt in den Pyramiden Carals eingemauert waren, aus dem Jahre 2627 vor Christus stammen. Weitere Untersuchungen von Fundstücken wie den kunstvoll verzierten Flöten, von Kleidungsstücken aus Baumwolle oder Federn bestätigten diese Altersangaben in den Folgejahren.
Heute weiß man, dass Caral rund 3000 Jahre vor Christus entstand – und um 1600 vor Christus wieder verschwand. In diesem Zeitraum wurde in der kleinen Stadt, wo schätzungsweise 3.000 Menschen lebten, ohne Unterlass gebaut. Mindestens sieben Pyramiden entstanden, von denen die letzte noch nicht einmal komplett freigelegt ist.
An der Pirámide de la Galería, der mit knapp 19 Metern dritthöchsten Pyramide der Stadt, fanden die Forscher dann im April 2005 das Päckchen, das zur Neufassung der Geschichte Perus und Amerikas den Ausschlag gab. Die Fundstücke, allen voran das spektakuläre Knotenbündel, aber auch Reste von Kleidungsstücken aus Baumwolle, sind seitdem im Museo de la Nación in Lima und an anderen Ausstellungsorten der Öffentlichkeit vorgestellt worden.
Baumwolle war ein ökonomischer Eckpfeiler der Handels- und Agrargesellschaft von Caral, erklärt Gonzalo Rodríguez. Bewässerungskanäle spannten sich wie ein Netz von Adern über die gesamte Region und versorgten die trockenen Felder mit dem lebenswichtigen Nass. Die Menschen im Hinterland von Caral belieferten die rund dreißig Kilometer entfernt lebenden Küstenbewohner mit sorgsam geknüpften Netzen aus Baumwolle und erhielten dafür Fisch und Meeresfrüchte. Reste von Sardellen und Muscheln wurden an zahlreichen Feuerstellen gefunden, erklärt Rodríguez.
Caral habe, so ergänzt Ruth Shady, über ein weit verzweigtes Handelsnetz verfügt. Auf großen Schautafeln wird aufgezeigt, was alles in Caral gefunden wurde und woher es stammt: Muscheln aus Ecuador und Argentinien, Samen der Achiote, einer Frucht aus dem tropischen Regenwald, oder die Federn des Cóndor, die aus dem Hochland stammen.
Vor allem bei den Schulkindern, die von Jahr zu Jahr in immer größerer Zahl in die Pyramidenstadt im kleinen Norden Perus, dem Norte chico, fahren, kommt diese Form der Veranschaulichung gut an. Ein großer Erfolg war auch die Rekonstruktion des Gesichts eines typischen Bewohners von Caral. Mehrere Monate arbeitete eine Gruppe von peruanischen Spezialisten aus Medizin und Kriminalistik anhand der fünf bisher gefundenen Skelette an der Plastik eines Kopfes und einer realistischen Statue.
Für die Peruaner ist das ausgesprochen wichtig, denn über die Veranschaulichung wird auch die Identifizierung mit der Hochkultur sehr viel leichter, erklärt Dr. Shady. Das ist ein zentrales Ziel der Archäologin, denn viele Peruaner tun sich schwer damit, sich mit der eigenen Kulturgeschichte zu identifizieren. Als Ruth Shady vor einiger Zeit einen Arbeiter aus dem kleinen Dorf Caral, welches in der Nähe der Ausgrabungsstätte liegt, fragte, wer die Pyramiden wohl einst erbaut haben möge, bekam sie die Antwort: Giganten waren es.
Dass es ganz normale Menschen gewesen sein könnten, konnte sich der Mann angesichts der beeindruckenden Dimensionen der Bauwerke nicht vorstellen. Mit einer Länge von 170 Metern, einer Tiefe von 150 und einer Höhe von 20 Metern sind die Dimensionen der größten Pyramide, der Pirámide Mayor, überaus beeindruckend. Die Antwort ist typisch für uns Peruaner, so die Archäologin. Auch Machu Picchu und die Linien von Nasca sind dem peruanischen Volksmund zufolge das Werk von Außerirdischen, erklärt Ruth Shady mit einem sarkastischen Lächeln. Mangelndes Selbstwertgefühl attestiert sie ihren Landsleuten, und da kann die Archäologie helfen. Auch das ist ein Grund, weshalb in Caral eng mit der lokalen Bevölkerung zusammengearbeitet wird.
Als Fremdenführer, Arbeiter oder Konservator werden vorrangig Einheimische angestellt, und die Bauern der Region können sich von Fachleuten beraten lassen. Dr. Shady will schlicht vermeiden, dass sich alle Hoffnungen in Caral wie in Machu Picchu auf den internationalen Tourismus fixieren.
Priorität in den Augen der Archäologin haben ohnehin die peruanischen Besucher, die nur einen äußerst geringen Obolus für den Besuch der Pyramidenstadt zahlen müssen. So will Frau Shady helfen, positive Bezüge zur Vergangenheit aufzubauen und die eigene Identität zu stärken. Ein Konzept, das in Peru seinesgleichen sucht.