piwik no script img

Archiv-Artikel

Die Spuren des Trösters

von WALTRAUD SCHWAB

Am 28. Juli 1900 wird „der Tröster“ geboren. So nennen die Eltern das Kind. In Galizien, jenem Landstrich, der heute in Südpolen und im Westen der Ukraine liegt, bringt ihn die Mutter zur Welt. Winzig, wimmernd und schon mit einer Bestimmung: Tröster, Consolateur, Menachem. Deutsch, Französisch, Hebräisch – die drei Sprachen werden in seinem Leben eine Rolle spielen. Das jedoch wird erst lange nach seinem Tod offenbar. Zuerst ist nur dieser Vorname da. Menachem. Tröster. Er wird gebraucht. Vor allem im 20. Jahrhundert. Die Eltern können es nicht wissen, als sie ihn 1900 so nennen. „Manche sagen, er heiße Menachem, denn fern ist mir der Tröster, der mein Herz erquicke.“ Das ist die Spur, die in den Klageliedern der Heiligen Schrift gelegt ist. Dort ist „er“ der Messias. Nicht Menachem Taffel. Dieser Mann steht lediglich für eine verlorene Spur in der Geschichte. Aber was ist wenig, wenn es ums Erinnern geht?

Georges Federmann ist Arzt und Psychiater in Straßburg. Es ist eine beschauliche Stadt, die um das gotisch-romanische Münster und die Kanäle gebaut ist. Fast zu groß wirkt die Kathedrale für die engen Straßen des Zentrums. Seit zehn Jahren fühlt sich Federmann mit dem Consolateur, dem Tröster, verbunden. „Tote leben weiter, wenn die Lebenden an sie denken“, sagt er. Menachem Taffel ist ihm ein Begleiter geworden. Wenn auch nur im übertragenen Sinn. Ein Weggefährte eben, wie er selbst als Arzt einer für die Kranken ist. Ein radikaler übrigens: „Schmerz ist der Ausgangspunkt einer Geschichte“, sagt er.

Roland Knebusch bestätigt, was Federmann sagt. Als Psychoanalytiker versucht auch er, die Menschen als das zu verstehen, was sie in ihren Tiefen sind. Knebusch kommt aus Kehl, Straßburgs Schwesterstadt auf der anderen Seite des Rheins. Durch Brücken sind die beiden Orte verbunden. In Kehl hat Knebusch durchgesetzt, dass jener Leute gedacht wird, die von hier Deutschland für immer verlassen haben. Sigmund Freud. Heinrich Mann. Auch für französische Widerstandskämpfer, die 1944 auf der deutschen Seite erschossen wurden, hat der 59-Jährige eine Gedenktafel an der Europabrücke anbringen lassen. In der Straßburger Lokalzeitung wurde darüber berichtet. Darauf meldete sich Federmann bei Knebusch. So lernten sich die beiden kennen.

In der Elsasser Straße 8, unweit der Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin lebt Menachem Taffel. Zusammen mit Frau und Tochter. Es ist die letzte Adresse, wo sie gemeldet sind. Bis 1873 hieß die Elsasser Straße Thorstraße. Seit 1994 Torstraße. Früher trennte sie die Stadt vom Land. Als eine der verkehrsreichsten Innenstadtachsen trennt sie bis heute. Weiß verputzt, hat das Haus – nun Nummer 141 – das Flair des Unbeschriebenen. Dass Menachem Taffel zuletzt da, in der Elsasser Straße, gelebt hat, lässt jene nicht los, die die Geschichte des Mannes kennen, verbindet sie ihn doch schon zu Lebzeiten mit dem Ort seines Todes.

Federmann führt ein offenes Haus. Seine Bekannten, die seiner drei Kinder und seiner Frau kommen und gehen. Auch Knebusch ist da. „Federmann gehört zu den wichtigsten Persönlichkeiten Straßburgs“, sagt Knebusch, als der Franzose gerade in der Küche ist. Eindringlich, fast beschwörend klingt das. „Ein Querdenker mit Einfluss, Fantasie, Kreativität ist er.“ Die beiden Männer sind Freunde geworden. Über ihre Verbundenheit sind sie selber verwundert. Wortführer ist Knebusch allerdings nicht. Die Rolle passt eher zu seinem Freund. Dem Federmann. Ausgesprochen mit kurzem „e“ und langem „a“. Es klingt wie „Feddermaan“. Als semiprofessioneller Basketballspieler kam er vor 30 Jahren nach Frankreich.

Eigentlich ist Federmann Marokkaner. Sein Vater: europäischer Jude. Seine Mutter: marokkanische Jüdin. „Sie hat mir das Arabische nicht beigebracht, weil sie ihre eigene Herkunft verachtete“, sagt Federmann. Dadurch habe er, der 1955 Geborene, gelernt, dass Ausgrenzung am Ende immer allen Beteiligten schadet. Das ist ihm zur Herausforderung geworden und hat ihn zu einem Aufklärer, einem Vermittler, einem Bewirker gemacht. Auf seinem T-Shirt prangt der Slogan einer Gruppe junger Einwanderer aus einer Straßburger Vorstadt, mit denen er zusammen arbeitet: „Pas de justice. Pas de paix.“ Wo kein Recht ist, ist auch kein Frieden.

Federmann hat ein Gespür für den Augenblick und für die Aufsehen erregende Geste. Als 1997 die neofaschistische Front National in Straßburg ihren Parteikongress abhielt, haben er und Knebusch einen Zirkel, einen Arbeitskreis gegründet – den Cercle Menachem Taffel. Es geht um Menschenrechte.

Er hat einen Laden. Mehl, Zucker, Salz, Brot. Sonst wird später wenig bekannt sein aus dem Leben von Menachem Taffel. Dass er laut Berliner Telefonbuch von 1931 in der Rheinsberger Straße 30 wohnt. Dass am 31. Mai 1928 die Tochter Ester Sara zur Welt kommt.

Federmann, der Straßburger, schaut seinem Gegenüber direkt in die Augen, wenn er mit ihm spricht. Er will sein Publikum mit Offenheit, mit Charme, mit Schnelligkeit fesseln. Alte Basketballerleidenschaft. Deshalb nimmt er den öffentlichen Raum auch als Akteur in Besitz, nicht als Beobachter. Dabei ist es ihm egal, was andere denken. Als er vor seiner Haustür auf dem Trottoir eine zerbrochene Flasche sieht, hebt er die Scherben auf. Seine Söhne stehen dabei. Nach einigem Zögern hilft ihm einer. Während er die Splitter einsammelt, sagt er: „Der Staat Israel ist ein Risiko für das Judentum. Es war ein Fehler, Israel die Autorität für die Erinnerung an die Schoah zu übertragen.“

In den 70er-Jahren studierte Federmann an der Universität in Straßburg Medizin, später wurde er Psychiater. Seine Praxis hat er seit 1987. Er muss selbstständig sein. Warum? „Ich bin der einzige Arzt in Frankreich, bei dem die Patienten entscheiden, wann sie kommen“, sagt er. Weil die Patienten wissen, was sie brauchen, er wisse es nicht. „Die Kranken lehren mich, nicht ich sie.“ Ein Psychiater ohne Macht, einer, der das Verhältnis von Arzt und Patient umdreht. Wie ein weiser Narr sagt er das.

Das anatomische Institut des Straßburger Universitätskrankenhauses, wo Federmann studiert hat, zeigt seinen wilhelminischen Charme und die Patina des letzten Jahrhunderts bis heute. Die beige Farbe splittert von den Wänden, an manchen Stellen blättert der Putz. Der steinerne Fußboden verleugnet nicht die Spuren seiner 170-jährigen Geschichte. Das Relief ist abgeschliffen von den Schuhen und der Zeit. Große Schwingtüren führen in die hohen Flure und Unterrichtsräume, in denen Schulbänke, Schaukästen mit in Formalin eingelegten Exponaten menschlicher Organe, Körperteile oder Missbildungen stehen. Unter den Fenstern der Seminarräume sind geflieste Quader fest ins Mauerwerk eingebaut. Sie sehen wie alte Arbeitsflächen aus, auf denen seziert werden konnte. Der Blick darauf ist flüchtig, Zutritt für Unbefugte verboten.

Erst vor zehn Jahren erfuhr Federmann, was an der medizinischen Fakultät der Straßburger Universität von 1941 bis Ende 1944 passiert ist. Nach der Besetzung Frankreichs etablierten die Deutschen in der seit Monaten vollständig evakuierten elsässischen Grenzstadt die „Reichsuniversität Straßburg“, die im November 1941 eröffnet wurde. Es entstand eine Kaderschmiede nationalsozialistischer Wissenschaft vor allem für Medizin. Experimente am lebenden Menschen. Verbrennungen mit Senfgas. Infektionen mit Fleckfieber, Hepatitis. Injektionen mit Phosgenen und Fluoriden. August Hirt, Anatomieprofessor, war einer der führenden Köpfe dieser Institution. Er ließ Menschen umbringen, weil er ihre Skelette in einer Sammlung zur Schau stellen wollte.

Im März 1943 wird die dreiköpfige Familie Taffel aus der Elsasser Straße abgeholt. Ziel: Auschwitz. Dort verliert sich die Spur von Frau und Tochter. Menachem Taffel wird nicht sofort umgebracht. Er muss Zwangsarbeit leisten. Die Nummer 107969 wird auf seinen Arm tätowiert. Zusammen mit anderen Häftlingen fällt er im KZ einem Trupp Mediziner in die Hände, die auf der Suche sind nach dem „typischen“ Juden. Dem Prototypen. Sie vermessen, machen Fotos, nehmen Gipsabdrücke. Ein Schreiben des Anatomieprofessors August Hirt liegt vor. Er will 150 vermessene Jüdinnen und Juden. Taffel ist einer der 115, die letztlich ausgewählt und ins Elsass transportiert werden. Taffel ist einer der 87, die das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof lebend erreichen.

Federmann erzählt, dass er empört war über das, was in der Anatomie geschah. „Man hat mir das Wichtigste der medizinischen Fakultät vorenthalten.“ Er wird nicht laut, er redet ruhig und klar. „Wenn man sich der Geschichte nicht stellt, belügt man die Patienten“, sagt er. „Ich fühle mich verantwortlich für die Fehler, die meine deutschen Berufskollegen gemacht haben“, sagt er. „Sie haben den Menschen Böses getan“, sagt er. „Sie haben die Medizin in ihr Gegenteil verkehrt.“ Stakkato.

Roland Knebusch, der Ältere der beiden, hat in den 60er-Jahren Medizin studiert, bevor er Psychoanalytiker wurde. „Viele meiner Dozenten waren Kriegsverbrecher“, sagt er. „Angefangen vom Lehrbuch für Anatomie.“ Voss Herlinger hat es verfasst. Er hat Handel getrieben mit Körperteilen von Nazi-Opfern. Dann gab es einen Lehrer in Psychiatrie, Friedrich Panse, Euthanasie-Verbrecher. Seine Medizinprüfung aber hat Knebusch bei Anton Kiesselbach gemacht. Er war August Hirts Assistent in Straßburg und später Rektor der Düsseldorfer Universität. „Im Unterricht hat er Hodenpräparate gezeigt. Wahrscheinlich stammten sie aus der Anatomie von Straßburg. Kiesselbach wollte herausbekommen, ob die Samenproduktion unter Angst aufhört.“ Knebusch wird aufgeregt, wenn er davon berichtet.

Sich einzumischen, hat der Deutsche in der Umweltbewegung gelernt. Nach mehr als zehn Jahren, in denen er gegen Giftfabriken argumentierte, hat er sich der Erinnerungsarbeit zugewandt. Mit radikalem Ansatz: Unter dem Nationalsozialismus habe es für die, die keine Mitläufer waren, nur Emigration oder Kampf gegeben. „Innere Emigration“ hält Knebusch für eine Lebenslüge. „Eine Entschuldigung, sich nicht einzumischen, gibt es nicht.“ Auch heute nicht. „In Tschetschenien, im Irak, im Kongo wird geschossen, aber wir leben weiter wie bisher. Ich verurteile das nicht. Das Ideal aber ist, dass man sich diesen Parallelwelten verweigert, dass man in einer Welt lebt. Es gibt nur diese.“

Mitten in den Vogesen, dort wo die Luft rein und der Blick auf die Gipfel des elsässischen Mittelgebirges frei ist, liegt „le Struthof“ – der Struthof. Ein Konzentrations- und Vernichtungslager auf französischem Boden, nahe Natzweiler, einem elsässischen Dorf. Von Freiburg ist es ungefähr 80 Kilometer entfernt. Terrassenförmig angelegt sind die Baracken. Je zwei auf einer Ebene. Dazwischen die Appellplätze. Wer oben antreten muss, sieht vor sich den Galgen, das Elend der Kameraden, das Krematorium und den 1009 Meter hohen Donon in der Ferne. Wer auf der unteren Ebene steht, sieht eine Armada geschundener Rücken und den Himmel über sich. Zerstörung durch Arbeit ist das Motto. Auch Zerstörung durch medizinische Experimente an den Gefangenen. Dazu die Natur, die unbarmherzig in ihrer Kälte und Hitze sein kann und wunderschön. Vogelgezwitscher, Wind, das Summen der Insekten, Blumen, die jenseits des elektrischen Zaunes blühen. Unweit des Konzentrationslagers gibt es ein Ski-Restaurant. Eines seiner Nebengebäude, in dem früher gegessen, getanzt, geschlafen wurde, wird zur Gaskammer umgebaut. Dort werden 86 der „typischen“ Juden aus Auschwitz vergast. Menachem Taffel ist einer von ihnen. Es ist im Spätsommer 1943.

„Die Menschen möchten sich erinnern. Es ist Teil unserer Kultur“, sagt Knebusch. Wie im Bahnhof von Kehl. Ein unprätentiöser Ort: verglaster Flur, Fahrkartenautomat, ein paar Schließfächern, eine Bank. Links hinter der Scheibe liegt die Bahnhofsmission und rechts die Schalterhalle, zwei Pfeiler stützen den Durchgang. Am einen hängt die Gedenktafel für Sigmund Freud. „Am 5. Juni 1938 verließ er Deutschland, um in Freiheit zu sterben“, steht darauf. Gerade war der Jahrestag. Eine brennende Kerze sowie ein Strauß mit drei gelben Nelken und einer roten Gerbera stehen auf dem Boden. Unter der Gedenktafel für Heinrich Mann am Pfeiler auf der gegenüberliegenden Seite hängt der Flucht- und Rettungsplan. Kann mit Gedenktafeln tatsächlich so viel bewirkt werden? Knebusch bejaht.

Seit Federmann weiß, was in der medizinischen Fakultät zwischen 1942 und 1944 geschah, will er, dass die Identität der Opfer für die Skelettsammlung rekonstruiert wird. Fast seien die Mitglieder des Cercle Menachem am Ziel, sagen sie. So viel ist sicher: Die Opfer, Männer und Frauen, kommen aus verschiedenen europäischen Ländern. Viele aus Griechenland. Zudem verlangt Federmann seit Jahren immer wieder von der Straßburger Universität, dass eine Gedenktafel an der anatomischen Fakultät angebracht werde, die an das Geschehen erinnert. Das Ansinnen wird von den Verantwortlichen beharrlich zurückgewiesen. Die Geschichte der Straßburger Universität habe nichts mit der Reichsuniversität zu tun, wird argumentiert. Seit Knebusch den Straßburger kennt, unterstützt er ihn. „Geschichte ist Gedächtnis. Ohne Gedächnis keine Zukunft“, sagt der Deutsche. Er, Nachkomme der Täter. Federmann, Nachkomme der Opfer. Die beiden wissen, dass sie Gleiche sind.

Alliierte Soldaten öffnen Ende 1944 die Räume in der medizinischen Fakultät. Sie finden 17 Leichen und Leichenteile von vielen anderen. Manche ohne Kopf. Manche mit abgeschnittenen Hoden. Von manchen nur Arme und Beine. Es sind jene 86 Menschen aus Auschwitz, die August Hirt, für seine Skelettsammlung der – nach nationalsozialistischen Vorstellungen dann ausgerotteten – jüdischen Rasse präparieren wollte. In der Anatomie haben Hirt und seine Kollegen die Körper der ermordeten Männer und Frauen in Alkohol konserviert und zerlegt. Angenommen wird, dass sie mehr als ein Jahr nach ihrer Ermordung noch nicht „skelettiert“ sind, weil die Chemikalien für die Auflösung der Körperfettschicht fehlte. Der einzige der 86 Opfer, der identifiziert werden kann: Menachem Taffel. Die Nummer 107969 auf seinem Unterarm ist noch zu entziffern.

Der jüdische Friedhof von Cronenburg, einem Stadtteil von Straßburg, liegt offen da. Keine Bäume, keine Blumen. Grabstein an Grabstein, der Verwitterung preisgegeben. Unter einem Streifen trockenen Rasens liegen die sterblichen Überreste der 86 jüdischen Opfer aus der Anatomie. Ein einfacher Grabstein erinnert an ihr Schicksal. Noch steht der Name von Menachem Taffel, dem Tröster, allein.