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Archiv-Artikel

Lieber Schulden als Deflation

In diesem Jahr schrumpfe die deutsche Wirtschaftskraft um 0,1 Prozent, sagen Berliner Wirtschaftsforscher vom DIW. Große Steuerreform solle durch höhere Kreditaufnahme finanziert werden. EU-Kommissar Solbes: Maastricht 2004 einhaltbar

von MATTHIAS BRAUN

Deutschlands Wirtschaftskraft schrumpft. Als erstes der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute veröffentlichte das Berliner DIW gestern Zahlen, wonach das bundesdeutsche Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 0,1 Prozent sinken wird. Gestern begannen auch die Bundesminister Wolfgang Clement und Hans Eichel von der offiziellen Regierungsprognose abzurücken. Bislang ging die rot-grüne Bundesregierung von einem Wachstum von 0,75 Prozent für 2003 aus.

„Eine konjunkturelle Wende ist auch für das nächste Jahr nicht in Sicht“, hieß es in der gestern vorgestellten Prognose des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). „Deutschland erlebt das dritte Jahr wirtschaftlicher Stagnation“, sagte Gustav Horn, Konjunkturexperte des Instituts. Damit wachse die Gefahr, dass sinkende Nachfrage nach Dienstleistungen und Waren zu einem Preisverfall führt. Um eine Deflation zu verhindern, müsse die Europäische Zentralbank die Zinsen senken, sagte Horn.

Unter den gegebenen Umständen rechnen die Berliner Wirtschaftsforscher für 2004 mit einem realen Wachstum von 0,7 Prozent. Weil das nächste Jahr vier Arbeitstage mehr hat, schlagen sie auf diesen Wert noch einmal 0,6 Prozentpunkte drauf.

In der aktuellen Debatte um die vorgezogene Steuerreform schlug sich das DIW gestern auf die Seite derer, die diese allein über neue Kredite finanzieren wollen. Würde die vorgezogene Reform durch neu aufgenommene Schulden bezahlt, ließe sich das prognostizierte Wirtschaftswachstum im kommenden Jahr um 0,3 Prozentpunkte steigern, 2005 sogar um 0,5. „Wir plädieren für eine weitgehende Kreditfinanzierung“, sagte DIW-Präsident Klaus Zimmermann. Weiterer Subventionsabbau hingegen ließe den positiven Effekt der Reform verpuffen. An die Unionsparteien gerichtet, plädierte Zimmermann dafür, diese sollten eine schuldenfinanzierte Steuerreform nicht blockieren.

Sei die Konjunktur einmal angesprungen, müssten allerdings weitere Subventionen abgebaut werden. Dies könne ab 2005 realisiert werden. Die entsprechenden Beschlüsse müssten jetzt fallen, sagte Zimmermann. Er betonte, dass die höhere Neuverschuldung befristet sein müsse. Denn sollte die Steuerreform ausschließlich über Kredite finanziert werden, würde Deutschland 2004 das Maastricht-Kriterium um 0,7 Prozentpunkte verfehlen, haben die DIW-Experten errechnet. Durch eine Gegenfinanzierung unter Einbeziehung von Subventionsabbau und Privatisierungserlösen ließe sich dieser Wert auf 0,5 Prozentpunkte drücken.

Dem Ärger, der Deutschland wegen der unerlaubt hohen Neuverschuldung seitens der EU droht, sieht Zimmermann gelassen entgegen. „Der Rat der europäischen Finanzminister hat Deutschland aufgefordert, etwas für die Konjunktur zu tun“, sagte er. Deshalb glaube er nicht, dass die Bundesregierung Schwierigkeiten bekommen werde. Das DIW gehört seit längerem zu den deutschen Wirtschaftsinstituten, die das Maastricht-Kriterium als unbrauchbar bezeichnen.

EU-Währungskommissar Pedro Solbes, der gestern Finanzminister Hans Eichel in Berlin besuchte und auf einer Wirtschaftstagung der SPD sprach, sieht das anders. Zwar gestand er zu, dass der Stabilitätspakt keine „Zwangsjacke“ sei. Doch er geht davon aus, dass Deutschland die Kriterien erfüllen werde. „Ich bin zuversichtlich, dass Deutschland das Drei-Prozent-Limit 2004 einhalten kann“, sagte er gestern nach seinem Gespräch mit Eichel. Allerdings seien nach wie vor Risiken vorhanden. Angesichts der Vorschläge der Wirtschaftsforscher aus dem DIW liegt er damit nicht ganz falsch.