: Traube, Liebe, Hoffnung
Es gibt Weine, denen man nicht mit Kategorien wie trocken oder süß beikommen kann, sondern über deren Grad von Harmonie man einfach nur mit der Zunge schnalzt. Ihre Heimat ist unter anderem an der Mosel. Doch ihre Freunde finden sich vor allem in Übersee, kaum in Deutschland
VON STEPHAN REINHARDT
Dass die Rebsorte Riesling mit die schönsten Weißweine dieser Welt hervorbringt – geschenkt. Sollte man wissen. Besser: man trinkt einen. Noch besser: gleich drei. Und zwar unter Zuhilfenahme eines Pakets von Moselrieslingen, deren Anteil an unvergorenem Restzucker ihnen nicht nur wenig Alkohol beschert – zwischen 7,5 und 9 Prozent, da kann man also schon mal richtig hinlangen –, sondern auch noch eine herrliche Fruchtigkeit. Und die befriedigt, glaubt man Winzer Reinhard Löwenstein aus Winningen an der Mosel, unser aller Sehnsucht nach Harmonie und lieblich-süßer Muttermilch.
Mag sein, dass mich eine Sehnsucht reitet, wenn ich zu so einem filigranen, von würziger Finesse und reifer Fruchtsüße vollendeten Riesling Kabinett oder Spätlese von Mosel, Saar oder Ruwer greife. Doch meistens ist es Durst. Und die pure Lust am Vergnügen. Wo sonst auf der Welt gibt es Weine, die mit derart wenig Alkoholaufwand eine vergleichbare Aromen- und Geschmacksintensität aufweisen? Die, gemessen an ihrer Klasse, so gut wie kein Geld kosten.
Umso unverständlicher ist es, dass Rieslinge mit natürlicher, also unvergorener Restsüße von der Mosel oder ihren Nebenflüssen, wenn überhaupt, immer noch eher schräg beäugt werden, während man ihnen im Ausland die größte Hochachtung und jede Menge Dollars entgegenbringt. Kaum einen seiner betörend fruchtig-süßen und ungemein saftigen Rieslinge kann der Ausnahmewinzer Dr. Loosen in Deutschland absetzen. „Hier geht nur trocken“, sagt der Mann, der in der US-amerikanischen Gastroszene ein Superstar ist. Und so bleibt mir der Genuss seiner furiosen 2003er Auslese Goldkapsel aus dem Erdener Prälat vielleicht als einem von wenigen Deutschen vorbehalten, bevor dieser unvergleichliche Wein seinen Weg durch die Lüfte oder Gewässer nach Fernost oder -west antritt.
Klar, nicht nur die Winzerstuben an der Mosel, ganz Deutschland, die ganze Welt ist voll von üblem Zuckerwasser, das Wein zu sein vorgibt. Gegen dieses Zeug opponierten schon in den 60er/70er-Jahren die ersten Gourmetjournalisten unseres Landes. Leider, wie das bei Reflexen so ist, gänzlich unüberlegt und pauschal. Und so wurden wir mit der nachgebeteten Forderung nach bis auf das letzte Gramm Zucker durchgegorenen Weinen in eine kulinarische Irre sozialisiert. Während trockene Rieslinge an der Mosel eigentlich immer als Unfall galten, weil sie dünn und sauer waren, sollen sie heute die Regel sein? Da kann etwas nicht stimmen, allein deshalb nicht, weil trocken relativ ist.
Das Weingesetz erlaubt neun Gramm Restsüße pro Liter für die Bezeichnung „trocken“ – lässt aber außer Acht, dass Weine mit 15 Gramm unvergorener Restsüße und einer hohen Säure wesentlich „trockener“ schmecken können als Weine mit wenig Säure und einem Restzuckerwert von lediglich fünf Gramm. „Analysewerte sind eine Sache, die Geschmackseindrücke eine andere“, sagt Egon Müller vom Scharzhof in Wiltlingen an der Saar zu den weinbürokratischen Begriffen „trocken“, „halbtrocken“ und „süß“. Um es zu verdeutlichen, kredenzt er eine 83er Spätlese aus einer der besten Riesling-Lagen der Welt, dem Scharzhofberg: Mich nimmt die geschmeidige Fruchtfülle und die feinrassige Säure gefangen, aber ich denke weder über Süße noch so etwas wie Herbheit nach. Sondern bewundere die Eleganz, Harmonie und Jugend dieses 21-jährigen Tropfens. „Darauf kommt es an“, sagt Müller: „Die Frage nach trocken oder nicht trocken stellt sich bei einem harmonischen Wein nicht.“ Darum steht bei Egon Müller auch keine „Geschmacksbezeichnung“ auf dem Etikett. Neben dem Prädikat (Kabinett, Spätlese, etc.) und dem Jahrgang ist nur die Lage aufgeführt: Scharzhofberger. Diese Auskunft ist dem Kenner Geschmacksangabe genug. Sie muss auch dem Laien genügen, denn für Müller ist der restsüße Riesling die einzige Möglichkeit, seinen Wein an das einmalige terroir, also die natürlichen Voraussetzungen dieser Lage zu adaptieren und dessen Eigenschaften am besten zum Ausdruck zu bringen. „Unsere Säure ist in diesem kühlen Klima recht hoch, die gilt es auszubalancieren. Mit einem Teil unvergorenen Restzucker geht das am besten.“
In der Tat schmeckt ein Kabinett aus dem Scharzhofberg frisch und rassig, aber nicht süß, und eine Spätlese gewinnt mit zunehmendem Alter an Komplexität, ohne dass dabei die Süße im Vordergrund stehen würde. Als wir noch eine 1976er und 1959er Scharzhofberger Spätlese trinken, um das Potenzial der soeben abgefüllten, von vollendeter tropischer Fruchtschönheit geprägten 2003er abzuschätzen, hat sich ohnehin jede Debatte über Analysewerte erschöpft. Erreichen denn diese Rieslinge niemals das Ende der Fahnenstange? „Wer solche Weine jung trinken will, braucht sie gar nicht erst zu kaufen“, erklärt Müller, „denn derartig traubige Aromen bekommt man auch schon zum halben Preis.“ Wie lange also sollte man Geduld haben? „Zwei, drei Jahre nach der Lese verschließen sich diese Weine für lange Zeit, etwa zehn bis 15 Jahre. Doch wenn sie dann wiederkommen, sind es die echten Klassiker – mit einer Haltbarkeit von mehreren Dekaden.“
Ich bin bei Wilhelm Haag, einem anderen Spitzenproduzenten rest- und edelsüßer Rieslinge. „Sagen sie nicht süß, diese Weine sind nicht süß“, fährt mir der weltweit verehrte Hausherr des Weinguts Fritz Haag in Brauneberg an der Mosel über den Mund – und ich bin mitten im Dilemma: Wie soll man diese Weine nennen, von denen hier die Rede ist? Off-dry, wie im Englischen? „Jedenfalls nicht süß oder gar lieblich. Diese Bezeichnungen sind tabu, weil sie ein schlechtes Image haben.“ Sondern? „Das sind fruchtige und bekömmliche Weine, an denen man nicht nippen, sondern die man trinken soll.“ Trinken muss! Denn einmal angefangen, mag man nicht damit aufhören. Wer keine zweite oder gar dritte Flasche einer Brauneberger Juffer-Sonnenuhr parat hat, sollte die eine gar nicht erst öffnen.
Das Verlangen nach mehr geht auf das geradezu frivole Gaumenspiel von reifer Frucht, feiner Fruchtsüße und rassiger, den Speichelfluss anregender Säure zurück. „Wenn dem Riesling die mineralische Säure und Würze der Schieferböden fehlt, dann fehlt ihm sein Gerüst, sein innerer Kern“, sagt Wilhelm Haag, für den Riesling und Mosel eine der glücklichsten Symbiosen des Planeten bilden. Kaum jemand an der Mittelmosel schafft es, seine Rieslinge so nah an die Grenzen der Gebrechlichkeit zu rücken wie er. Die kristalline Klarheit, die feingliedrige, ausgewogene Art seiner floral-fruchtigen Rieslinge ist einzigartig und Resultat der Lage, aus der sie stammen. Vom Weingut aus sieht man auf eine der historisch und bis heute bedeutendsten, begehrtesten und teuersten Lagen der Mosel, die Juffer-Sonnenuhr. In der etwa zehn Hektar großen, von flachgründigem braunem Verwitterungsschiefer dominierten, leicht hohlspiegelförmigen Südsüdostlage besitzt Haag 3,5 Hektar Rebfläche. Den ganzen Rest teilen sich etwa 100 weitere Winzer. Das warme Mikroklima sorgt hier gewöhnlich für Weine mit einem intensiven Aroma reifer Früchte, dezenter Kräuternoten und ebenjenem charakteristischen Schieferton.
Unter Wein-Intellektuellen ist der Begriff „lecker“ besonders verpönt. Aber lecker sind sie nun mal: kurz nach dem Entkorken leer getrunken, dem Verdunsten keine Chance gegeben, auch bei der zweiten oder dritten Flasche nicht. Und hätte es eines Beweises bedurft: Die Kaseler Nies’chen Spätlese des Jahrgangs 1999 vom Weingut Reichsgraf von Kesselstatt in Trier – für erschwingliche 13 Euro in einer feineren Hamburger Spar-Filiale erstanden – hat ihn geliefert. Denn die Erfahrungen einer Kurzreise an die Mosel in Wort und Bild zu packen hat genau einen dreiviertel Liter umfassenden Inhalt dieses köstlichen Ruwer-Weins gekostet, dessen letzter Schluck soeben würdevoll meine Kehle hinunterschreitet wie dieser Text sein finales banales Wort findet: Großartig!
Stephan Reinhardt lebt in Hamburg und ist Weinautor für überregionale Zeitungen und Fachzeitschriften.