: Hippie-Idyll für die ganze Familie
Ohne wirklich ersichtlichen Grund auf Deutschlandtournee: Der Auftritt von R.E.M. in der Berliner Waldbühne belegte, dass die Band nun ein Klassiker ist und ein Kind der Stones-Philosophie. Denn irgendwann ist es egal, was du tust, Hauptsache, du tust es. Das Publikum dankte mit der Feuerzeugarie
von ANDREAS HARTMANN
Früher war alles einfacher, früher lief es so: Die Welt ist schlecht, doch wenigstens der Rock ’n’ Roll gut. Heute, wo der Rock ’n’ Roll dieses Selbstverständnis eingebüßt hat, ist man mit Pop-Soziologie schnell am Ende. Gut also, dass es da noch R.E.M. gibt. R.E.M. sind inzwischen einfach da, scheinen niemandem mehr groß was beweisen zu müssen und sind ohne wirklich ersichtlichen Grund gerade auf Deutschlandtournee. Es gibt keine neue Platte, kein R.E.M.-Revival, und „Losing My Religion“ wurde auch nicht von Levi’s für eine frische Werbekampagne auserkoren. Man hat das Gefühl, diese Tour einer über zwanzig Jahre alten Band, die ihren kommerziellen und kreativen Zenit seit zehn Jahren überschritten hat, soll einzig und allein eines belegen, nämlich dass R.E.M. nun Klassiker sind und Kinder der Stones-Philosophie: Irgendwann und mit dem Alter ist es egal, was du tust, Hauptsache, du tust es.
Bei ihrem Konzert in der Berliner Waldbühne ging es dann auch schlicht um gute Unterhaltung. Die Bühne war grellbunt gestaltet und in Sommerfarben gehalten, rechts prangte eine gemalte Sonnenblume, und immer wieder leuchteten drei Buchstaben rot auf: „LUV“. Willkommen im Hippie-Idyll für die ganze Familie! Viel war in den letzten Jahren auch davon die Rede, was für ein verschrobener Typ der Sänger Michael Stipe sei, ein wenig umgänglicher Anti-Popstar mit dem großen Problem, zu seinem eigenen Coming-out zu stehen. Doch hier und heute schien Stipe mit sich und der Welt im Reinen zu sein. Der Mann mit der markanten Glatze und dem ewigen Milchbubi-Gesichtchen bot zwar als Einziger seiner Gruppe durchaus so etwas wie eine Show, bewegte sich, machte Gesten, ging mal in die Knie, doch vor allem schien es ihm darum zu gehen, äußerst freundlich zu sein. Er war nett und langweilig und murmelte zwischen den Songs immer mal wieder belanglose Ansagen ins Mikro. Die gingen ungefähr so: „Heute ist ein besonderer Tag, der vierte Juli, Independence-Day.“ Kurz dachte man: Weia, jetzt kommt doch noch was, jetzt wird der Michael Moore, der verschrobene Intelektuelle, in Stipe geweckt, etwas gegen Bush und für Europa von sich gegeben. Aber nichts dergleichen: „Doch vor allem hat heute meine Oma Geburtstag, die längst über den Wolken weilt“, beendete Stipe diese Ausführung.
Der ganz große Erfolg R.E.M.s war ja eher eine Art Unfall, so wenig geplant und vorhersehbar wie zur selben Zeit der von Nirvana. Die Achtzigerjahre hindurch spielte diese Band aus Athens, Georgia, als Teil der College-Radio-Szene ihren von Velvet Underground und den Byrds beeinflussten Punk-Folk, ohne dass das jemanden von MTV groß interessiert hätte. Bis 1991 die Platte „Out Of Time“ erschien, „Losing My Religion“ die Charts von hinten aufrollte, der Song mit mit einem Grammy ausgezeichnet wurde und R.E.M. quasi über Nacht in die Superstarliga katapultiert wurden, auf Augenhöhe mit Pearl Jam und U2. Vom Paisley-Underground also zum Mainstream-Pop – ob sich dieser Aufstieg auch musikalisch nacherzählen lässt? Falsche Frage. Eine Antwort darauf hätte das wild gemixte Publikum, das man ähnlich auch bei Peter Maffay vermuten würde, auch gar nicht interessiert. Es wollte Hits hören, all die großen und auch weniger großen Hits, zu denen sich wunderbar die Feuerzeuge und die ausgestreckten Arme schwenken ließ. „Maps and Legends“, dann natürlich „Losing My Religion“ und zum krönenden Schluss das „Satisfaction“ von R.E.M, der Mitsinger für alle.: „It’s the End of the World as We Know It (And I Feel Fine)“. Jubel! Begeisterung! Niemand schien sich daran zu stören, dass Bassist Mike Mills und Gitarrist Pete Buck nichts weiter boten als solides Handwerk und überhaupt von Bühnenpräsenz kaum die Rede sein konnte. Allein diese Songs mal wieder zu hören, zu denen wahrscheinlich beinahe jeder im Publikum seine persönliche Geschichte im Kopf hatte („ ‚Losing My Religion‘ war in dem Sommer ein Hit, als wir das erste Mal unseren Hüftspeck verglichen“, fiel beispielsweise dem Begleiter Ihres Autors ein), das zählte. Wer dieser Tage zu Robbie Williams geht, will das Besondere sehen. Beim Konzert von R.E.M. waren alle vollends damit zufrieden, dass sie das Besondere hörten.