: Beeinträchtigt, nicht behindert
Sie ist gerne präsent – überall: Ulrike Lotz-Lange. Zu den Paralympics nach Athen darf die Rollstuhlfechterin aber nicht
von hildegard filz
Die Signale sind unmissverständlich. Das linke Bein zuckt in alle Himmelsrichtungen, will nicht zur Ruhe kommen, wehrt sich gegen die steifen Hände. Das rechte Bein hat von all dem nichts mitbekommen. Schlummert friedlich auf dem Trittbrett. Ulrike Lotz-Lange (40) kennt die Sprache ihres Körpers. „Das ist normal – nach dieser Anstrengung.“ Sie lächelt, als Trainer Mike Bunkes (58) tellergroße Hände das Bein zur Ruhe bringen. Ende einer Übungsstunde. Schweißtröpfchen hüpfen übers bunte Stirnband, rinnen ihr blasses Gesicht hinab, das eine Metallmaske eben noch verborgen hat. Ulrike Lotz-Lange ist Rollstuhlfechterin.
Der Reihe nach verlassen die „Fußgänger“ das Parkett. „Naja, die Fußfechter“, Lotz-Lange verbessert sich. Sie hat die Vokabel gefunden, die zum Leben der anderen gehört. Zu denen, die ohne körperliche Behinderung fechten. Manchmal passen sie sich an, nehmen im zweiten Rollstuhl Platz und werden zum Trainingspartner. Stellung. Fertig. Los! Ulrike Lotz-Lange ist die einzige Rollstuhlfechterin im Schleswiger Fechtclub, von landesweit 21 Vereinen trainiert nur er in dieser Disziplin. 202 Kilometer fährt sie von Lütjenburg, wo sie lebt und arbeitet, nach Schleswig und zurück. Jede Woche. „Der Sport hat mich selbstbewusst gemacht“, sagt sie.
Und reich an Medaillen – Europameisterin mit ihrer Mannschaft im Degen 1999, ein Jahr später Deutsche Vizemeisterin, EM-Dritte mit der Mannschaft in Degen und Florett 2001. In ihrer Disziplin ist Lotz-Lange Deutschlands einzige Leistungssportlerin.
Wenn die 80 Mitglieder des Schleswiger Fechtclubs zu Florett, Degen oder Säbel greifen, folgen sie demselben Gebot: Treffen, ohne getroffen zu werden. Den kürzesten Weg finden, den kleinsten Winkel nehmen. Den eigenen Körper beherrschen und den anderen nie aus den Augen lassen. Ein ständiger Wechsel zwischen Angriff und Verteidigung. Fechtmeister Bunke spricht von der größten Herausforderung: „Die Angst überwinden, angreifbar zu sein.“ Für Lotz-Lange kein Problem. Im Gegenteil. „Früher war ich still“, sagt sie und meint ihren Lebensabschnitt vor dem Rollstuhl.
Seit er zu ihrer Zeitrechnung gehört, sei sie offener geworden. „Eine Ghettoisierung wollte ich nie. Ich bin gerne präsent – überall.“ Wie auf der Planche. Das ist ihre ganz persönliche Herausforderung, die größte seit 22 Jahren. Als eine Entzündung des Rückenmarks im Halswirbelbereich aus der „Fußgängerin“ eine Rollstuhlfahrerin machte. Einen „Rolli“ – diese Vokabel hat sie für sich gefunden.
Tetraplegie. Lähmung aller vier Gliedmaßen. Ulrike Lotz-Lange kann weder Beine noch Hände bewegen. Vom Brustbein abwärts nimmt sie nichts wahr. In der Schulterpartie steckt noch ein wenig Sensibilität, einige Muskeln spürt sie. Ihre grünen Augen blitzen auf, als sie sagt: „Ich bin nicht behindert, ich bin beeinträchtigt.“ Gegen diese Beeinträchtigung trainiert sie an. Übt zu Hause an der Sprossenwand, unter ständiger Selbstbeobachtung vor dem Spiegel. „Arbeit“, sagt sie dazu. Die schafft sie allein, beim Sport jedoch braucht sie Hilfe. Schon beim Ankleiden.
Blütenweiße Fechthose, Brustpanzer aus Plaste und Elaste, metallene Brokatweste mit Kunststofffutter – langsam wird die Sozialarbeiterin in eine Sportlerin verwandelt. Ihre Waffe hält sie nur, weil sie fixiert ist, eingeklinkt in die Schlaufe einer Ledermanschette über dem rechten Fechthandschuh. Die Laschen sitzen fest. „Damit die Hand nicht abknickt“, sagt sie, „ich selbst kann das nicht steuern.“
Ihre Stimme klingt nüchtern, als lese sie aus einem Telefonbuch. Als sei sie viele Erklärungen gewohnt. „Das macht nichts“, sagt sie ebenso klar, ein Lächeln erobert Mund und Augen. Bunke fixiert den Klettverschluss ihres Rückens mit der Rückenlehne des Rollstuhls, ihr Oberkörper soll nicht zur Seite kippen. „Für den Gegner wär‘ ich ein gefundenes Fressen“, sie lacht jetzt, „kippe ich nach vorne, hab‘ ich Probleme mit der Spastik.“
„Jaaa – Treffer.“ Der Trainer hat einen Punkt gemacht. Gegen seine Schülerin. Für sie wird er zum Rollstuhlfechter, seinen kräftigen Oberkörper schwingt er nach vorne. Auch Lotz-Lange sorgt für Schwung: Zwar hat der Rollstuhl keine Seitenlehnen, doch kann sich ihr linker Arm an einem Hebel abstoßen. Die Rollstühle sind auf Gestellen festgezurrt. Bolzen trennen sie voneinander.
Parade und Gegenangriff, ein kontinuierliches Spiel. Stumpfe Klingen auf Achterbahnfahrt. Lotz-Lange schickt Arm plus Degen auf Rundreise – „jep“ – zielt auf Bunkes Armschutz – „wow“ – trifft zielgenau. Der Melder blinkt. Gleichstand. „Mit den Muskeln, die ich habe, will ich 200 Prozent bringen.“
Sport war schon immer ihr Ding. Die Leichtathletik war es vor ihrer Beeinträchtigung, dann sollte es das Schwimmen sein. „Viele Hallenbäder sind nicht rollstuhlgerecht“, sagt sie, die sich für das Fechten entschied. Eine C-Frau gegen B-Frauen – eine Tetraplegikerin gegen Frauen mit Paraplegie, im Becken- und Rumpfbereich gelähmt, doch können sie ihre Hände bewegen. „Die hab‘ ich manchmal ganz schön geärgert“, sagt C-Frau Lotz-Lange, die ihre Weltranglistenpunkte in der B-Klasse erhält. Grund: International ist das C-Fechten nicht geöffnet, noch nicht, sagt sie. Weltweit gebe es zu wenige Sportlerinnen dieser Schadensklasse. Ihren griechischen Traum von Olympia 2004 hat Lotz-Lange ausgeträumt. Um in der B-Klasse zu kämpfen, sind ihre Medaillenchancen zu gering. Sie darf nicht mit – zu den Paralympics nach Athen.
Kurz nach 21 Uhr. Vor ihr 101 Kilometer nach Lütjenburg. Warum dieser Aufwand? Sie sagt: „Ich kämpfe gerne.“