: Nur die Zikaden singen
aus Avignon DOROTHEA HAHN
Auf der Brücke tanzt niemand. Die Bühnen sind leer. Und in den Gassen zwischen den mittelalterlichen Gemäuern machen bloß die Zikaden Lärm. Die Schauspieler aber liegen auf dem Asphalt und schweigen. Aus Protest. Sie kommen mittags zusammen und legen sich nieder. Auf der rue de la République. Oder am Place de l’Horologe. Wenige Meter von den dicken Mauern jenes Palasts entfernt, in dem neun Päpste residiert haben und in dessen Cour d’honneur 55-mal das Festival von Avignon begann. Die Schauspieler tragen schwarze Klebstreifen über den Mund und Worte wie „Tod“ und „Adieu“ auf dem T-Shirt. Manche lassen Tränen auf den Asphalt rinnen.
Avignon, wo zu dieser Jahreszeit gewöhnlich buntes und lautes Treiben herrscht, ist in diesen Tagen ein Ort der Wut und der Trauer. Das größte Theaterfestival der Welt wird bestreikt. Die Eröffnung der 56. Auflage des offiziellen Festivals am Dienstag ist ausgefallen. Auch der gestrige zweite Spieltag wurde abgesagt. Und bei Redaktionsschluss war unklar, ob bis zum geplanten Festivalende am 31. Juli überhaupt noch ein Stück auf die großen Bühnen der provenzalischen Stadt kommen kann. Bernard Faivre d’Arcier, der das Festival seit 20 Jahren leitet und für den 2003 der krönende Abschluss werden sollte, überlegt, alles abzusagen. Er will die Zuschauer nicht täglich neu hinhalten, und er will auch nicht vor Polizisten spielen.
Jeden Abend versammeln sich die Schauspieler, Musiker, Tänzer und Techniker des so genannten In-Festivals neu, um über Fortgang oder Ende ihres Streiks zu entscheiden. „Grève reconductible“, heißt diese Übung – verlängerbarer Streik. Bis lange nach Mitternacht diskutierten mehrere hundert von ihnen in der Nacht zu gestern über Für und Wider des Streiks. Am Ende setzten sich die Befürworter durch. „Spielen, auftreten – das ist unser Leben“, sagt der erfolgreiche französische Theaterregisseur Stanislas Nordey, „aber wir haben keine Wahl. Wenn es darum geht, dass 30 oder 35 Prozent von uns verschwinden sollen, müssen wir kämpfen. Mit allen Mitteln.“
Grund für die Proteste ist ein Sparvorhaben in der Kulturpolitik. Der französische Arbeitgeberverband Medef und drei Gewerkschaften, die zusammen nicht einmal 10 Prozent der Branche repräsentieren, haben kurz vor Festivaleröffnung ein entsprechendes Abkommen unterzeichnet. Es geht darin um die Zukunft einer Sozialversicherung für nicht fest angestellte Beschäftigte der Theaterbranche, die weltweit einmalig ist. Die Honorararbeiter – so genannte intermittents du spectacle – bekommen, wenn sie gerade keine bezahlten Auftritte oder Proben haben, Arbeitslosengeld. Sie müssen allerdings nachweisen, dass sie 507 Stunden im Jahr gegen Honorar gearbeitet haben. Künftig sollen sie genauso viele bezahlte Auftritte in weniger Zeit nachweisen. Dann bekommen sie weiter Unterstützung – aber nicht mehr so lange wie bisher. Der Unternehmerverband und die Regierung begründen das Abkommen mit dem hohen Defizit der Sozialkasse. Die intermittents du spectacle wissen, dass das für viele von ihnen tödlich wäre. Am härtesten würde es junge Künstler treffen, die am Anfang ihrer Karriere stehen.
Seit seiner Gründung ist Avignon das alljährliche Rendezvous der großen und bekannten Künstler der Theaterbranche. Diese Bühnenaristokratie nimmt am „In“-Festival teil. Seit mehr als zwei Jahrzehnten hat sich parallel dazu ein zweites Festival entwickelt. Das „Off“ zieht längst mehr Teilnehmer an und produziert zahlenmäßig die meisten Veranstaltungen. In diesem Jahr haben sich mehr als 600 Kompanien zum „Off“ angemeldet und sich auf 15.000 Auftritte bis Ende Juli vorbereitet: Auf den typischen kleinen Bühnen der Stadt, aber auch in Innenhöfen, Garagen und Wohnungen. Für die Off-Theater-Szene ist Avignon eine Vitrine. Ein Markt. Wer in Avignon im „Off“ auftritt, hofft auf die Theaterdirektoren und -agenten im Publikum. Sie beginnen im Juli auf dem Festival die Programmplanung ihrer Bühnen. Von diesem Aufkauf ihrer kleinen Stücke leben die Kompanien im „Off“.
Große, subventionierte Strukturen gibt es in dieser Szene nicht. Wer daran teilnimmt, macht alles selbst. Viele Kompanien geben ihre letzten Ersparnisse aus, um die Reise nach Avignon und eine Unterkunft zu finanzieren sowie täglich ein paar Stunden in einem der sündhaft teuren Off-Theater zu mieten. Während der monatelangen Vorbereitungen leben sie von der Arbeitslosenunterstützung dank ihres Status als intermittents du spectacle.
Der Pariser Regisseur Stéphane Daurat und seine „Compagnie Caravane“ haben in diesem Jahr knapp 60.000 Euro für Avignon investiert. Sie hatten ein Stück eigens für das Off-Festival produziert und wollten es 23-mal aufführen. Am Tag der Festivaleröffnung nehmen sie mit zwei Transparenten an der Demonstration auf der zentralen Achse zwischen dem Bahnhof und dem Papstpalast teil. Das eine zeigt ein Werbeposter ihres Spektakels „Occuppe-toi d’Amélie“, auf das in großen Lettern die Aufschrift „bestreikt“ geklebt ist. Das andere Transparent richtet sich flehentlich an den französischen Staatspräsidenten: „Wir haben Sie im vergangenen Jahr mit 82 Prozent der Stimmen gewählt“, steht darauf, „bitte helfen Sie uns jetzt. Seien Sie mutig. Stemmen Sie sich gegen den Unternehmerverband.“
Was aus ihr wird, wenn das Sparvorhaben durchkommt, kann sich auch die Jongleurin und Artistin Tania Malaquin aus Lille nicht vorstellen. „Vielleicht ist das unser letztes Avignon“, sagt sie über sich und ihre kleine „Compagnie Méli Mélo“. Die 26-Jährige hat es „mit Ach und Krach“ geschafft, vergangenes Jahr auf die 507 honorierten Stunden zu kommen, die nötig sind, um anspruchsberechtigt zu sein. „Mehr bezahlte Auftritte“ sagt sie, „sind einfach nicht drin.“ Wie viele intermittents du spectacle verlangt die Jongleurin nach einer Reform des Status. Denn seit der Privatisierung der Fernsehsender bedienen sich vor allem die wie Pilze aus dem Boden geschossenen privaten Filmproduktionsgesellschaften daran. Sie beschäftigen Personal, das ständig in den Büros arbeitet, bezahlen es aber nur mit Honoraren. Den Rest übernimmt die Sozialkasse für die intermittents du spectacle. Für Tania Malaquin ist das „schwerer Missbrauch“. Das Abkommen aus Paris würde diese Ungerechtigkeit ihres Erachtens aber noch verstärken. „Die privaten Produktionsfirmen können die Zahl der honorierten Stunden Tagen problemlos vergrößern. Mit ‚Big Brother‘ und anderen Mülleimerproduktionen verdienen sie dafür genug“, begründet sie.
Die Kompanien des „Off“ streiken in Avignon nur einen Tag. Dann machen sich die meisten von ihnen wieder an die Arbeit. Manche wollen von der Bühne aus mit dem Publikum diskutieren. „Für uns ist ein längerer Streik finanziell das Ende“, sagen sie. Sie sind auf die In-Künstler angewiesen. Spät in der Nacht sitzen Hunderte von Off-Künstlern vor dem Lokal, in dem sich jene versammelt haben und über die Fortsetzung des Ausstands debattieren. Die Zikaden haben längst aufgehört zu zirpen. Durch die Straße geht ein kaum hörbares rhythmisches Flüstern.
„Grève, grève, grève générale“ – Streik, Streik, Generalstreik –, raunen die Off-Künstler. Sie hoffen, dass ein entschlossener Streik der Großen aus dem In-Festival auch ihnen hilft. „Die haben wenig zu verlieren, sie werden subventioniert und werden auch im nächsten Jahr wieder auftreten“, sagt eine junge Schauspielerin aus Montpellier. „Ich werde dann vielleicht als Kassiererin arbeiten müssen.“
Auf dem großen Vorplatz des Papstpalasts haben die intermittents du spectacle einen aus ihrer Reihe gekreuzigt. „Die Kultur ist keine Ware“, haben sie dazu geschrieben. Verhinderte Festivalbesucher bleiben davor stehen. Einige von ihnen tragen Aufkleber mit der Aufschrift „Solidarischer Zuschauer“. Andere tragen Sticker aus eigenen vergangenen Streiks mit sich herum. Avignon ist ein Festival der Lehrer. Unter den Zuschauern stellen sie traditionell die größte Gruppe. Die meisten von ihnen haben vor den Sommerferien selbst gegen Sparpläne in ihrer Branche gestreikt, aber kurz vor dem Abitur aufgehört. „Aus Rücksicht auf die unschuldigen Abiturienten“, sagten sie damals. In Avignon ermuntern jetzt Lehrer, gestärkt von dem bitteren Gefühl, selbst nichts erreicht zu haben, die Schauspieler zum Durchhalten. „Lasst euch nicht einschüchtern wie wir. Gezeichnet: Eine Lehrerin“, steht auf einem Poster.
Vor den Theaterkassen in Avignon versammeln sich allmorgendlich lange Schlangen. Nicht um Tickets zu kaufen, sondern um sie zurückzubringen. „Es ist eine Schande, dass Premierminister Raffarin nichts für die Schauspieler tut“, schimpft eine verrentete Lehrerin aus Avignon, die vier Karten in der Hand hält, „wovon sollen wir in Zukunft leben, wenn die Kultur stirbt!“