: Die Rächer sind unter uns
Können die Deutschen wirklich aussterben – wie die Debatten um den demografischen Wandel insgeheim suggerieren? Niemals. Aber was macht vielen Menschen Angst vor dieser Annahme?
VON CHRISTIAN SCHNEIDER
Was haben wir Deutschen mit der Stellerschen Seekuh, dem Auerochsen, was mit Quagga, Dodo und Dronte gemeinsam? Dass wir wie sie bald nur noch als Fußnote der Evolution existieren. „Die Deutschen sterben aus“, heißt es – scheinbar ist nur von Demografie die Rede.
Noch gehören wir lediglich zu den bedrohten Arten, noch gibt es uns ja reichlich. In mehr als 80 Millionen Exemplaren. Noch wie lange? Wenn man Bevölkerungsforschern glaubt: sehr lange.
Aber die Geburtenrate sinkt, die Ursachen für diesen Trend mögen vielfältig sein – vom Pillenknick über Individualisierung und Auflösung traditionaler Familienstrukturen bis hin zur Veränderung der Lebensstile – die Tatsache selbst ist nicht zu bestreiten. Bliebe es so, wie es heute ist, würde – ohne Zuwanderung – die zwischen Ueckermünde und Lörrach, Emden und Berchtesgaden lebende Bevölkerung im Jahre 2100 auf zirka 33 Millionen schrumpfen. Aber wie viele davon wären noch so genannte „echte Deutsche“?
Tatsächlich verzeichnet die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquetekommission „Demografischer Wandel – Herausforderungen unserer älter werdenden Gesellschaft“ in ihren Zwischenberichten nicht nur eine eklatante Veränderung der Alterszusammensetzung, sondern auch eine der ethnischen Komposition innerhalb der Gesamtbevölkerung.
Und das bedeutet: In Zukunft wird es weniger Deutsche von jener Sorte geben, die man landläufig so kennt – blasshäutig, eher blond als dunkelhaarig. Aber sterben die Deutschen deshalb aus? Natürlich nicht. Trotzdem hält sich die Angst zäh. Und – das ist bemerkenswert – nicht nur in den bekannten rechtskonservativen, gar völkischen Milieus. In ihnen bedeutet die Rede vom Aussterben nichts anderes als das Verschwinden der vermeintlich „wahren“ Deutschen.
Hinter diesen Mutmaßungen stehen alte, letztlich am Bild der Nazis orientierte Rassismen, die sich mit Ängsten vor „Überfremdung“, „Vermischung“ und Auflösung einer vermeintlichen deutschen Kernidentität amalgamieren. Dieses Denken unterstellt spezifisch deutsche Art-, genauer: Rasseeigenschaften.
Über diese Phantasmen kann man, muss man aber nicht reden. Der Vorstellungskreis gehört – ebenso obskur wie minoritär – zum Bodensatz unserer Gesellschaft. Interessant ist eine zweite Variante des Diskurses, die – rational und liberal – im Zeichen der Aufklärung ein modernes Endzeitdenken etabliert. Auch hier geht es um Altern und Veralten, Sterben und Aussterben, jedoch in anderem Gewand und mit, teilweise, anderen Angstinhalten.
Tatsächlich rührt die Metaphorik des Aussterbens an menschliche Urängste. Als Ursachen für das Aussterben „großer, weit verbreiteter Organismengruppen“ führt die Wissenschaft Naturkatastrophen und Klimawechsel, den Wegfall der notwendigen Nahrungsgrundlage sowie die „überproportionale Zunahme von Nahrungskonkurrenten oder Fressfeinden“ an. Eine weitere Hypothese erklärt das Aussterben als Abschluss des arteigenen inneren Entwicklungsprozesses: als den unausweichlichen Schlusspunkt der Sequenz Jugend – Reife – Alter.
Die Aufzählung liest sich wie der kleine Katechismus alter und neuer deutscher Ängste: von der grün inspirierten Furcht vor der kosmischen Katastrophe bis zu braun-xenophoben Hirngespinsten um Eindringlinge, die uns erst das Futter, dann die Haare vom Kopf und schlussendlich uns selbst wegfressen werden. Letztere Fantasie lässt die unbezwingbarste Angst des Menschen im oralen Bereich aufscheinen – die vom Fressen und Gefressenwerden. Als kollektive Angst bringt sie horrorgesättigte Gefühle hervor, Opfer einer Überfremdung zu werden: Werden die anderen zu viele, dann werden sie uns schlucken!
Jede Form der Angst dreht sich in irgendeiner Weise um das Verhältnis von Macht und Ohnmacht. Die vor dem Aussterben liegt jedoch auf einer anderen, tief in unsere Kulturgeschichte eingelassenen Dimension: Sie ist in der Idee begründet, aus dem Schöpfungsplan gestrichen zu werden. Mag uns die Vorstellung des Todes mit dem endgültigen Ende konfrontieren, so die des Aussterbens mit dem unwiderruflichen Nichts. Und: Wenn das dem Einzelnen Identität, Rang und Bedeutung verleihende Kollektiv ausgelöscht wird, ist auch – gleichgültig, in welcher Richtung des Zeitstrahls – ein jeglicher die Einzelexistenz überstrahlende Sinn vernichtet. Das Verschwinden der eigenen Art und die Angst davor rufen unweigerlich Zweifel am inneren Sinngefüge der Welt hervor. Die Vorstellung des Aussterbens ist durch eine apokalyptische Vernichtungsidee grundiert.
Das englische Wort für ausgestorben („extinct“) transportiert dies mit seiner aktivischen Komponente präziser als der biologistische deutsche Ausdruck. „Auslöschen“ trifft die abgründige Dimension, die in unserem Unbewussten hinter jedem Tod steht und sich im Bild des Aussterbens zum kollektiven Phantasma verdichtet. Dass hinter dem Tod kein natürliches Geschehen, sondern ein feindlicher Akt stecke, kein anonymes Schicksal, sondern eine Intention – die gewalttätige Antwort auf unser eigenes latent mörderisches Verhalten.
In den Fantasien über das Schicksal unseres Herkunftskollektivs tritt vernehmbar zutage, was wir für uns selber – jedeR für sich – insgeheim fürchten: zu Unrecht auf der Welt zu sein. In Deutschland hat diese Angst seit der extinktorischen Politik der Nazis eine eigene Geschichte. Wenn wir ans Aussterben des „deutschen Wesens“ denken, dann ist das nicht von der Existenz einer unbewussten Rachefantasie abzulösen.
In der Metaphorik des „Aussterbens der Deutschen“ meldet sich ein Stück Geschichte zurück, die immer noch eine Gravitationslinie unserer Gesellschaftsgeschichte bildet. Gerade heute: Derzeit durchleben die traditionell angstbereiten Deutschen eine Phase, in der die klassischen Eindämmungen ihrer basalen Befürchtungen verloren gehen. Nahezu alles, worauf sich einmal unser Stolz, unser Identitäts- und Sicherheitsempfinden gründete, von der ökonomischen Leistungsstärke bis hin zum Denker-&-Dichter-Bonus, scheint in Frage gestellt.
Wir sind – Inbegriff der deutschen Ängste – von allen Seiten umzingelt. Drohen auf der einen Seite Rentenloch und Methusalemkomplott, so ragt auf der anderen Seite die bildungspolitischer Chiffre namens Pisa turmhoch und bedrohlich schief über unseren Häuptern. Die Alten werden immer älter, die Jungen immer dümmer: Der Abstieg des einstigen Superstars scheint unaufhaltbar. Schlusslicht, rote Laterne, Nullwachstum – weder der ökonomische noch der biologische Penis scheint mehr so zu schwellen, wie es für kräftiges, sicherheitsverheißendes Wachstum in eine gesegnete Zukunft nötig wäre.
Die Rede vom Aussterben der Deutschen dreht sich also auch um eine kollektive Unfruchtbarkeitsfantasie. Die hysterische Sorge über unser Verschwinden von der Bildfläche ist von der unbewussten Fantasie der Zeugungsunfähigkeit angetrieben. Sie folgt der Logik: Es ist deshalb so wenig Nachwuchs, so wenig Zukunft da, weil uns die Unfruchtbarkeit schon eingeholt hat. Unser Sperma ist nichts mehr wert.
Und tatsächlich, längst sind die Deutschen nicht mehr das, was sie mal waren: Jeder Blick in eine städtische Grundschulklasse zeigt die wachsende Dominanz der Anderen. Je ethnisch gemischter unsere Gesellschaft, desto mehr wächst die Angst, die eigene (ja selbst schon immer Resultat einer völkerwandernden Vermischung seiende) Art als das erhalten zu können, was wir in unserem Unbewussten immer noch sind: Herrenmenschen. Neidisch schauen wir auf jugendlich boomende Gesellschaften – von denen wir letztlich doch nur Tod und Verachtung erwarten: auf die prosperierende Türkei, auf die geburtenstarken Länder des arabischen Nahen Ostens. Spätestens seit dem 11. September hat sich unsere Blick auf diese Dimension eingeengt. Der Blick in irgendeine multiethnische Schulklasse sagt uns: Die Rächer sind unter uns.
Die Angstfantasie, die Deutschen stürben aus, ist nicht nur der Reflex auf eine sozial erodierende Gesellschaft, sondern Signal für die Wiederkehr einer alten Schuld. Deren biologische Träger mögen mittlerweile beinahe vollzählig verschwunden sein – nicht verschwunden ist die unbewusste Angst vor Rache. Sie kleidet sich in die Fantasie vom Aussterben der Deutschen: Sie erzählt von der Angst, die biologische Potenz verloren zu haben, denen zu trotzen, die es uns heimzahlen wollen.
Keiner von denen, die über das Aussterben schwadronieren, glaubt wirklich an ein demografisches Ende der Deutschen. Es geht um das Verschwinden eines Herrenvolks. Das hatte uns ja schon der Führer am Ende seiner Tage zugerufen: Wer sich von Untermenschen zermürben lässt, hat sein Existenzrecht verloren.