Mitte im Auge

Chinas Alltag fotografierte der Kaufmann Wilhelm Wilshusen von 1901 bis 1919. Seine optische Enzyklopädie gehört nun dem Übersee-Museum

„Badischer Wein“ steht auf dem weißen Karton mit orangener Banderole, „Badischer Wein vom Kaiserstuhl“. Aber die Herren, die mit ihm für die Kameras posieren, haben weiße Baumwollhandschuhe übergestreift. Sein Inhalt ist nämlich viel wertvoller als die Beschriftung verrät. Und die Geschmacksrichtung lieblich trifft’s auch nicht: 3.000 Fotografien hatte der Lilienthaler Kaufmann Wilhelm Wilshusen während seines Aufenthalts in China gemacht. Das war von 1901 bis zur Ausweisung 1919. Und die Bilder sind keine gestellten Repräsentativ-Fotos, sondern – genau das macht sie so wertvoll – herbe, dokumentierende Blicke auf den Alltag im Reich der Mitte. Jetzt ist dieser Schatz in den Besitz des Überseemuseums gewechselt. Der 1924 geborene Sohn des Handlungsreisenden, Rolf Wilshusen, übergab gestern die von seinem Neffen Axel Roschen und Thomas Theyer aufbereitete Sammlung.

Der Kontrast zwischen grober Verpackung und feierlicher Übergabe ist gewollt. „Die Baumwollhandschuhe sind ein bisschen Show“, sagt Theyer. Ein Hinweis darauf, dass Roschen und er Mitte der 70er Jahre durchaus Pionierarbeit leisteten. Damals begannen sie, das Konvolut zu sichten, zu ordnen und neue Abzüge zu fertigen. Fotos nämlich waren zu dieser Zeit weder auf dem Kunstmarkt noch als sozialhistorische Quelle anerkannt. Der Umgang mit dem Bildmaterial war entsprechend sorglos: „Von Handschuhen war da keine Rede.“ Stattdessen: Säurehaltige Kartons, Plastikbüchsen mit Weichmacher – das drehte heutigen Konservatoren den Magen um.

Bei der vorläufigen Datierung, sonst eines der Hauptprobleme fotografischer Hinterlassenschaften, halfen den beiden Archivaren aus Leidenschaft Wilshusen Seniors Reisebeschreibungen. Auch deren Originale und die Durchschriften der Kaufmanns-Korrespondenz wandern ins Magazin des Übersee-Museums. Dort soll Silke Seibold die Sammlung wissenschaftlich betreuen. „Ich darf“, präzisiert sie. „Durch die Quantität und ihre Qualität ist diese Sammlung etwas besonderes.“ Zunächst steht der Aufbau einer Datenbank an.

Ein Obstverkäufer in Shanghai hat seine kugeligen Früchte zu Türmchen gestapelt, am Straßenrand auf seinem primitiven Verkaufstisch. Mit einer Art Schubkarre lässt sich eine in feinstes Weiß gekleidete junge Dame über einen Feldweg fahren, geschoben von einer barfüßigen, dürren Landfrau – die Aufnahmen rühren an. Kein Zufall ist ihr ethnografischer Blick: Einerseits habe Wilshusen im Auftrag des Bremer Unternehmers Melchers in Shanghai mit Realien wie Därmen und Fellen gehandelt, erläutert der Leiter der Museums-Abteilung Völkerkunde Andreas Lüderwaldt. „Außerdem gab es regen Kontakt mit Hugo Schauinsland.“ Mehrfach hatte der erste Direktor des Übersee-Museums den Handlungsreisenden in Shanghai besucht. Ein fruchtbarer Austausch: Auf ihn, so Lüderwaldt, sei auch das China-Haus der ostasiatischen Sammlung zurück zu führen. „Es ist gleichsam ein Denkmal für Wilshusen.“ bes