Der Mutant des Schienenstrangs

Hartmut Mehdorns liebste Übung: Er gibt sich selbst ein Interview im Bahn-Magazin

Nach der Preisreform beschert er uns somit die Kommunikationsrevolte

Als mir neulich zum ersten Mal im Leben ein ICE entwischte, weil er tatsächlich auf Zeigersprung in die Hufe kam, wusste ich noch nicht den Grund; mir hämmerte nur mein eigener Spruch durch den inneren Kopfbahnhof, dass es nichts Schlimmeres gibt als pünktliche Züge … Im nächsten ICE lag dann die Lösung auf allen Sitzen ausgebreitet: Die neue Kampfschrift aus Mehdorns persönlicher Prosaschmiede, fast titellos, mit nichts als einem Neigezugtriebkopf auf der Vorderseite, der auf den nicht geneigten Leser zurast. Drinnen meldet sich dann auf Seite 32 ff. der Herr der Schienen wie gehabt mit einem Interview zu Wort, das ohne namentlich erwähnten Fragensteller auskommt. Vermutlich gibt Mehdorn also in seinem Hause nicht nur alle Antworten, sogar fürs Fragen ist er jetzt allein zuständig. Nach der Preisreform beschert er uns somit die Kommunikationsrevolte.

Aber die genau macht den Prellkopf in der deutschen Literatur so einzigartig! Wer sonst könnte derart volkssouverän hinausposaunen, dass es, „was die Verkehrsstruktur angeht, kein glücklicheres Volk als uns (gibt) … – alles ist offen für alle, und ich schätze einmal, maximal drei Prozent der Menschheit stehen so gut da wie die Deutschen.“ Das unterscheide uns laut Mehdorn insbesondere vom Bahnland Japan, wo immer alle Züge ausgebucht und nicht mal Stehplätze vorhanden seien. Was man dankbar registriert, wenn man im Fahrradabteil senkrecht-freihändig ein schönes Wochenende verbringen darf.

Auch Hartmut Mehdorn steht wie eine Eins, auch weil seine „persönliche Pünktlichkeitsperformance“ noch besser ist als die des Unternehmens. Sein Erfolgsrezept verrät er zwar an dieser Stelle nicht: Wer nämlich im Büro übernachtet, ist morgens immer Erster. Aber dafür gebe es halt für die Bahn auch immer diese „Außeneinflüsse“ wie zum Beispiel „das Wetter im Herbst mit extrem schnellem Laubfall“. Das muss furchtbar sein für jeden Lokführer: „Extrem schneller Laubfall“ ist nun mal die Ökogeißel des 21. Jahrhunderts.

Dabei haben Mehdorn und die Seinen „Dinge gemacht, die gemacht werden mussten … aber das Grobe ist getan und jetzt kümmern wir uns auch wieder mehr um die Unternehmenskultur.“ Für so etwas greift er allerdings nicht zu den weichen Teilen in seinem persönlichen Kulturbeutel, denn „so ein Unternehmen kann man nicht mit Wattebausch in linker und Wattebausch in der rechten Hand führen und auch nicht populistisch … aber was wir jetzt deutlich spüren: Wir kommen nach und nach an.“ Das scheint überhaupt das neue Erfolgsrezept zu sein: Jetzt kommen nicht mehr alle Züge auf einmal, sondern hintereinander an, halten also einfach die Fahrpläne ein. So viel Raffinesse spricht sich gerade unter jungen Menschen herum. Die sagen Mehdorn ganz offen: „Wir wollen gar nicht zu … eingefahrenen Unternehmen, denn da stehen wir nur hinten an. Aber bei der Bahn, da bewegt sich etwas …“ Und so soll’s letztlich doch auch sein: vorne ist die Lok, und hintendran hängen die Wagen. Und plötzlich gibt es einen Ruck, und es bewegt sich was. Dafür hätte es zwar streng genommen Hartmut Mehdorns gar nicht unbedingt bedurft – das könnten auch die Ruckmacher vom Bundes-Rangierdienst sein, die Romans und die Hottes der Nation. Aber Mehdorn ist halt im Vergleich schon viel, viel weiter als alle Politik. Er hat sich bereits in ganz andere Dimensionen hineingedacht, nämlich ins Güterbahnland USA. Dort sind „manche Züge bis zu drei Kilometer lang und fahren 6.000 Kilometer, ohne anzuhalten … Die können sogar Container übereinander stellen, weil es keine Brücken gibt.“

Das ist Mehdorns Welt: Gütertürme durchs Wattenmeer gejagt, am langen Börsenzügel von virtuellen Lokführern geführt. Das müssen nicht mehr unbedingt menschliche Wesen sein, die diesen Schienenweg zur Börse pflastern. „Dazu ist die breite Führungsmannschaft zu regelrechten Unternehmern mutiert“, weiß der Chefgenetiker der Bahn. Ganz gleich, was „breite Führungsmannschaft“ hier meinen mag, da setzt einer auf andere Kräfte als auf bloße Signalwirkung. Bei Julien Offray de La Mettrie, dem Guru aller Materialisten, war es der „L’homme machine“, der die Zukunft bringen sollte. Bei Mehdorn kommt noch Oberdraht drumrum. Doch Vorsicht! Der geistlose Franzose starb an einem 11. 11. um 11.11 Uhr – mitten in einem Berliner Karnevalszug vermutlich – an einem verschluckten Hühnerknochen. Wer weiß, worüber wir uns im ICE „Vodoo Mehdorn“ sitzend noch alles wundern werden …

REINHARD UMBACH