: Gegen die Globalisierungsmystik
Die US-Soziologe Richard Derber propagiert neue Konzepte für die weltweite Angleichung der Lebensverhältnisse
Globalisierung ist unser Schicksal. Es gibt keine Alternative zum derzeitigen Lauf der Dinge, versichern diejenigen, die in der Globalisierungsdebatte den Ton angeben. Wer den Anschluss nicht verpassen wolle, müsse mitunter schmerzhafte Anpassungsprozesse durchmachen. Am Ende werde es jedoch allen besser gehen, den reichen Ländern ebenso wie den armen. Auch politisch könne die Globalisierung Gutes bewirken: Sie verdränge rückständige und repressive Regime von der Macht und bringe die Demokratisierung voran.
Für den amerikanischen Soziologen und Gesellschaftskritiker Richard Derber ist all dies „Globalisierungsmystik“. In seiner Gegenrechnung zeigt er, dass sich hinter vermeintlich alternativlosen Prozessen benennbare Mächte mit spezifischen Interessen und Ideologien verbergen: Die Machtzentren im Norden und Westen dieser Welt sind die Gewinner. Die Verlierer finden sich unter den abhängig Beschäftigten oder Arbeitslosen in den entwickelten Ländern – und vor allem in jenen Volkswirtschaften der unterentwickelten Welt, die unter Ausbeutung und Abhängigkeit leiden oder sogar regelrecht kollabieren.
Derber analysiert die Praktiken transnationaler Konzerne ebenso wie die globale Rolle der USA und der von ihr dominierten Schlüsselorganisationen wie des Internationalen Währungsfonds oder der Welthandelsorganisation. Sie und andere global wirksame Institutionen sind neoliberal geprägt und greifen dementsprechend in die ökonomischen und politischen Strukturen vieler Länder ein – mit teilweise katastrophalen Folgen.
Mit seinen Thesen reiht sich Derber in die zahlreicher werdenden globalisierungskritischen Publikationen der letzten Jahre ein. Was zeichnet seine Darstellung gegenüber anderen aus? Zunächst die jederzeit verständliche anschauliche Sprache und der weitgehende Verzicht auf alarmistische Polemik oder Verschwörungstheorien. Zudem legt er seiner Analyse nicht nur volkswirtschaftliche Statistiken oder Fachliteratur zugrunde, sondern hat sich selbst in der Welt umgesehen: Derber weiß, wovon er spricht, wenn er die frühkapitalistischen Arbeitsbedingungen in den Sweatshops dieser Welt schildert.
Das eigentlich Innovative und Anregende seines Buchs ist jedoch dessen historische Dimension. Globalisierung – das ist für Derber kein völlig neuartiges Phänomen. Vielmehr zeigt er, dass sich im Laufe der Geschichte immer wieder Globalisierungsschübe ereignet haben, etwa in der von ihm ausführlich behandelten Ära des Kolonialismus und Imperialismus. Historische Analogien dieser Art sind nach Derbers Überzeugung lehrreich und ermutigend. Denn sie zeigen, dass sich scheinbar übermächtige und automatisch ablaufende soziale Prozesse als gestaltbar und korrigierbar erwiesen haben. So ist denn auch nicht Globalisierung als solche für Derber das Problem, sondern ihre derzeitige Ausrichtung. Ihr gelte es zu widerstehen.
Globalisierung, so fordert er, könne und müsse „neu erfunden“ werden. Seine Vorschläge dazu sind teils pragmatisch und durchaus realisierbar, teils visionär und utopisch. Er verdichtet seine Ideen zu einem alternativen Konzept von Globalisierung, zu einem Modell „globaler Demokratie“, das auf Ausgleich und Gerechtigkeit basiert.
Gewiss provoziert das Buch Kritik und Fragen: Sind historische Analogien wirklich so tragfähig, wie Derber dies unterstellt? Werden die globalisierungskritischen Bewegungen tatsächlich auf längere Sicht jene weltverändernde Rolle spielen können, die er ihnen zugedacht hat? Und taugen die europäischen, sozialdemokratisch geprägten Gesellschaftsmodelle tatsächlich als globale Alternative zur wesentlich rüderen amerikanischen Variante des Kapitalismus?
Doch ungeachtet solcher Bedenken hat Derber ein gleichermaßen lesbares wie lesenswertes Buch geschrieben. Es bietet nicht nur Globalisierungskritikern viel Anregendes, sondern ist auch jenen zu empfehlen, die sich mit globalisierungskritischen Argumenten und Perspektiven erst vertraut machen möchten. ULRICH TEUSCH
Richard Derber: „One World. Von globaler Gewalt zur sozialen Globalisierung“, 256 Seiten, Europa Verlag, Hamburg 2003, 17,90 €