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Archiv-Artikel

Umziehen, ehe die Mauer kommt

In Jerusalem trennen die israelischen Sperranlagen auch Palästinenser von Palästinensern. Viele, die über eine entsprechende Aufenthaltserlaubnis verfügen, möchten lieber auf der israelischen Seite leben. Denn dort finden sie eher Arbeit

AUS SCHEICH SA’ADSUSANNE KNAUL

Asis Alan steht in Jeans und Windjacke auf einem Hügel und schüttelt den Kopf. Wie der unmittelbar vor seinem Dorf geplante Trennzaun Israel mehr Sicherheit bringen soll, ist ihm schleierhaft. „In Jerusalem werden Palästinenser von Palästinensern getrennt, nicht von den Juden“, meint er. Seine freundlichen, von zahlreichen kleinen Lachfältchen umgebenen Augen bleiben ernst, als er die „Absurdität“ der Regierungspolitik erklärt. Über 200.000 Palästinenser werden auf israelischer Seite der um die Stadt herum errichteten Trennanlagen leben. Das Dorf Scheich Sa’ad bleibt, laut Plan des israelischen Verteidigungsministeriums, auf palästinensischer Seite.

Noch besteht Hoffnung auf den Rechtsweg. Gestern kam es zu einer gerichtlichen Anhörung mit dem Ergebnis, dass die Richter für die kommende Woche einen Ortstermin einberiefen. Protest regt sich jetzt auch von Seiten der jüdischen Nachbarn, die mit inzwischen 900 Unterschriften die Eingliederung des gesamten Dorfes in die städtischen Grenzen von Jerusalem fordern.

Die einzige geteerte Zufahrtstraße zu dem kleinen Ort ist mit einem Müll- und Geröllberg blockiert, aus dem die Überreste eines alten Autos hervorgucken. Grund für die Sperre, so erklärt eine Sprecherin der israelischen Armee, sei die Tatsache, dass wiederholt Terroristen über Scheich Sa’ad nach Israel gekommen seien. Seit September 2002 „können wir unser Dorf nur noch zu Fuß erreichen“, berichtet Alan, denn eine Straße zum restlichen Westjordanland gibt es nicht.

Die Müllcontainer an der verschütteten Straße verbreiten einen beißenden Gestank, was eine Gruppe von Palästinensern nicht davon abhält, etwa zehn Meter hinter der Blockade vor einem kleinen Lebensmittelladen zusammenzustehen und einen Plausch zu halten. Die Männer sind seit Monaten arbeitslos. Als ein blauer Kadett vor dem Geröllhaufen stoppt, springt einer von ihnen auf. „Da kommen die Medikamente für meine kranken Zwillinge“, erklärt er. Hundert Schekel (20 Euro) habe er dem Fahrer zahlen müssen, damit er die Arzneien bekommt, die nur in Jerusalem erhältlich seien.

Alan ist mit einer Palästinenserin aus Ostjerusalem verheiratet, was ihn in den Besitz einer „temporären Aufenthaltsgenehmigung“ bringt. Der 47-Jährige, trotz leichten Übergewichts deutlich jünger Wirkende, deutet mit der Hand ins Tal. Dort sollen die Trennanlagen verlaufen. Alan arbeitet bei einer NGO für die Entwicklung der palästinensischen Landwirtschaft. Seine Frau ist Lehrerin in der Altstadt Jerusalems. Vor gut einem Jahr zogen die beiden mit ihren vier Kindern in das fast ausschließlich von Juden bewohnte Viertel Armon Hanasiw, eine ehemals jüdische Siedlung im Südosten der Stadt, die vor gut 20 Jahren Jerusalem angeschlossen wurde. Von hier aus sind es fünf Minuten zu Fuß nach Scheich Sa’ad, wo drei von Alans Schwestern und zwei Brüder leben.

„Wenn die Mauer erst mal steht, werde ich meine Geschwister nicht mehr besuchen können“, sorgt sich Alan. Sein altes Haus, in dem die Familie „seit hundert Jahre lebte“, steht leer. Auf etwa ein Drittel seiner ehemaligen Wohnfläche muss er sich nun in Armon Hanasiw beschränken, doch die regelmäßigen Einkünfte seien wichtiger, zumal er als einziger der Geschwister arbeite. So wie Alan zogen schon „rund 800 Leute“ aus dem Dorf weg auf die israelische Seite, ein gutes Viertel der Gesamtbevölkerung. Es sind diejenigen, die Jerusalemer Papiere haben.

„Tausende Palästinenser mit blauen (israelischen) Ausweisen ziehen in den Jerusalemer Einzugsbereich zurück“, berichtete die liberale Tageszeitung Ha’aretz vor kurzem auf der Titelseite. In Scheich Sa’ad stehen die Bewohner von 15 Häusern in der nordwestlichen Ecke des Dorfes, die noch hier wohnen, vor dem Dilemma, ob sie „nach Israel“ ziehen sollten. „Die Häuser gehören zum Zuständigkeitsbereich der Jerusalemer Stadtverwaltung“, so heißt es in einem Bericht der Menschenrechtsorganisation Betselem. Sie wurden zusammen mit dem unmittelbar angrenzenden Jabel Mukaber, heute ein Stadtteil Jerusalems, annektiert. Der Rest blieb palästinensisch. Die geplanten Trennanlagen würden das Dorf wieder vereinen.

Völlig willkürlich sei die zunächst nicht sichtbare und für die Bevölkerung kaum spürbare Grenze von 1967, die nach Besetzung des Westjordanlandes durch das Dorf gezogen worden war. Arbeitsplätze, Schulen, medizinische Einrichtungen und der Friedhof sind in Jerusalem. Bis 1993 schien die formale Teilung unproblematisch, dann jedoch verhängte die israelische Regierung eine allgemeine Einreisesperre über die Palästinenser aus dem Westjordanland. Wer nach Israel einreisen wollte und auf der „palästinensischen Seite“ lebte, brauchte zum ersten Mal eine Sondergenehmigung. Wer ohne Papiere über den Geröllberg klettert, sei es, um auf der „israelischen“ Seite zu arbeiten oder sich medizinisch behandeln zu lassen, riskiert seither Verhaftung und Geldstrafen.

Das Dorf liegt auf einem 650 Meter hohen Berg und ist durch ein Tal vom nächsten palästinensischen Ort Sawahra al-Schakija so gut wie abgeschnitten. Drei Anläufe braucht der Fahrer eines Subaros, um seinen Wagen schließlich im Rückwärtsgang den engen, ungepflasterten und sehr steilen Weg hoch nach Scheich Sa’ad zu lenken.

„Die Armee ist verpflichtet, uns eine Verbindungsstraße zu bauen“, erklärt Alan. So habe der Oberste Gerichtshof in Israel einer Petition der Dorfbewohner folgend entschieden. „Wir warten seit über zwölf Monaten darauf.“