Der Blinde unter den Kriegern

In Berlin präsentierte der Theaterregisseur Armin Petras sein erstes Tanzstück

„Körper lügen weniger als Worte“, sagte der junge und viel beschäftigte Regisseur Armin Petras vor einem Jahr in einem Interview und erzählte davon, wie er eine Freundin um ihre tanztheatralische Arbeit beneidet. So war es nicht ganz verwunderlich, dass nun sein erstes choreografiertes Stück als Work in Progress auf dem Festival „In Transit“ zu sehen war, das vom Haus der Kulturen der Welt in Berlin ausdrücklich auch als Produktionsplattform für Experimentelles verstanden wird.

„Kein Wunder, dass Musik und Tanz so bedeutsam sind“, heben seine fünf Darsteller darin denn auch einmal zu einer Grundsatzerklärung an, die vom Misstrauen in die Sprache als Instrument der Erkenntnis und Vermittlung handelt. Verwunderlich aber ist das Stück „mach die augen zu und fliege oder krieg böse 5“ dennoch, weil in ihm die Ideen wie in einem Sack voll ungebändigter Flöhe durcheinander hüpfen.

Nichts ist ausgearbeitet, alles ist grob skizziert. Das Unfertige und Offene der Form scheint allerdings mehr als bloß ein Noch-nicht-Erreichen der Ziellinie. Denn in zweierlei Hinsicht geht es in dem Stück „mach die augen zu“ um das Herantasten an eine Form des Bewusstseins, das die Welt noch nicht kennt und von den Mustern, nach denen ihr Bild sich ordnen wird, noch wenig weiß. Die eine Quelle ist ein alter Text, der „Simplicissimus“ von Grimmelshausen: wie Simplex als Kind im Dreißigjährigen Krieg aufwächst und langsam erst lernt, zwischen Wölfen und Kriegern zu unterscheiden.

Die andere Quelle ist die Erfahrung von Blinden, Kindheitserinnerungen der blinden Tänzerin Pernille Sonne, die mit auf der kleinen Bühne steht. Mit beiden Materialsträngen verfolgt Petras eine Spur, die ihn auch schon in anderen Inszenierungen beschäftigt hat: Aus den eigenwilligen Konstruktionen heraus zu erzählen, mit denen sich Kinder das Unerklärbare zu einer eigenen Logik verknüpfen.

Die fünf Mitspieler in „mach die augen zu“ erscheinen weniger als Darsteller denn vielmehr als Platzhalter für Figuren. Sie teilen sich Rollen auf: einer übernimmt die Sprache, zwei andere die Bewegungen. Lara Kugelmann und Pernille Sonne bewegen sich eng aneinander geschmiegt durch die Szene, in einer Art körperlichem Urvertrauen, das im Gegensatz steht zu den kriegerischen Augenblicken, von denen berichtet wird. Lara schiebt Pernille in die Positionen und Gesten, die den Text illustrieren, sie geht mit ihr wie ein Bildhauer mit seinem Modell um. Doch das Eigenartige ist: Gerade durch dieses offensichtliche Ausstellen des Menschen als Material für die Idee einer Darstellung tritt die Performance einen Schritt zurück hinter die übliche Art der Instrumentalisierung der Schauspieler.

In diesen Irritationen, die das Bild von dem, was eine Rolle ist, und die gewohnte Einheit der sinnlichen Wahrnehmung aufbrechen, liegt das größte Potenzial des Stücks. Manchmal ist zum Beispiel ein Geräusch zu sehen, aber nicht zu hören; die Bewegungen der Performer signalisieren Hufgeklapper, aber es bleibt still. Die vielen blinden Zuschauer, die zur Voraufführung eingeladen waren, bekamen übrigens eigene Kopfhörer und hatten wohl noch eine eigene Tonspur eingearbeitet.

Anderes bleibt unbefriedigend. Zum Beispiel möchte Petras das Gefühl permanenter körperlicher Unsicherheit verfolgen, um damit die Themen „Krieg“ und „Blindheit“ in Verbindung zu bringen. Aber das bleibt eine Konstruktion, die aus dem hör- und sehbaren Material heraus nicht einleuchtet. So erstaunlich die Szenen sind, die bei Sophokles und den antiken Kriegen andocken oder von der Vernichtung des Waldes in Papua-Neuguinea erzählen: Ihr Zusammenhang bleibt bloße Behauptung. So entlässt die Produktion ihre Zuschauer reichlich ratlos.

KATRIN BETTINA MÜLLER