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Archiv-Artikel

„Bin ich schon drin?“

Keinen sicheren Listenplatz hatte die Bremer EU-Kandidatin Helga Trüpel. Deshalb war die Wahlparty umso spannender: Momentaufnahmen aus einem Wechselbad der Gefühle

Bremen taz ■ 17.30 Uhr: Die ersten Bremer Grünen, ihre Sympathisanten und einige publizistische Wegelagerer treffen im Edel-Bistro Salomon’s ein, dem Ort der grünen „Europawahl-Party“. Die EU-Kandidatin Helga Trüpel wirkt nervös. Etwa 11,7 Prozent brauche sie, raunen die Grünen Auguren. Sollten sowohl PDS als auch FDP den Sprung ins Europäische Parlament schaffen, sagt sie selbst nüchtern, habe sie nicht den Hauch einer Chance.

18 Uhr: Die Prognose. Sie sieht die Grünen bei guten, aber für Trüpel bitteren 10,4 Prozent. Nur elf deutsche Grüne ziehen demnach ins EU-Parlament ein, Trüpel ist auf Platz 13 der Liste. Die Kinnladen im Salomon’s klappen nach unten. Stille. Nur ein dicker Mann mit Parka und Werder-Meisterschaftsschal bricht angesichts des Grünen-Ergebnisses in urschreiartigen Jubel aus.

18.15 Uhr: Helga Trüpel äußert sich gegenüber der Presse. Sie spricht von einem „Beben in der politischen Landschaft“, von einem „wirklich schwierigen Ergebnis“ für die SPD. Die Grünen hätten ein tolles Ergebnis erzielt, man habe einen super Wahlkampf geführt. Es sei ihr immer klar gewesen, dass sie „kein sicheres Ticket“ nach Brüssel habe.

18.30 Uhr: Grünen-Landeschef Dieter Mützelburg tritt ans Rednerpult. „Wir haben keinen Grund traurig zu sein“, sagt er aufmunternd. „Es wäre schon ein tolles Ding gewesen, wenn Helga es geschafft hätte“, sagt er. „Bitte rennt nicht gleich weg, lasst uns erst mal einen auf das Ergebnis trinken.“ Noch nie hätten die Grünen bei einer bundesweiten Wahl so toll abgeschnitten.

18.45 Uhr: Neue Hochrechnungen sehen die Grünen jetzt bei über 11 Prozent – und bei 12 Mandaten. Das reicht immer noch nicht für Helga Trüpel, aber in den Reihen der Spitzengrünen keimt neue Hoffnung. Dieter Mützelburg steht in einem dunklen Eck und tippt hastig in einen kleinen Taschenrechner. „11,62 Prozent braucht die Helga“, sagt er, „und die sonstigen kleinen Parteien dürfen nicht unter 9,3 Prozent fallen – dann hätte sie es geschafft.“

19 Uhr: Mützelburg tritt wieder ans Mikro, erste Bremer Ergebnisse liegen vor. In Stadtbremen liegt man bei 18,5 Prozent. Beifall. Helga Trüpels Handy in ihrer Hosentasche fängt immer öfter an zu vibrieren.

20 Uhr: Die Tagesschau bringt eine neue Hochrechnung. Plötzlich liegen die Grünen bei den von Mützelburg errechneten 11,6 Prozent, sie haben 13 Mandate. Danach hat es Trüpel geschafft. Großer, noch etwas unsicherer Beifall. Trüpel traut dem Braten nicht. Ihr Handy vibriert. „Das ist Dany“, sagt sie. Spitzenkandidat Daniel Cohn-Bendit gratuliert per Telefon. „Ich hab immer gewusst, dass du es schaffst“, soll er gesagt haben. Dieter Mützelburg rechnet weiter.

20.40 Uhr: Das Ergebnis hat sich kaum verändert, aber es soll auf der Kippe stehen, raunt Mützelburg. Fraktionschefin Linnert raucht: Das mache sie nur, wenn sie nervös sei, sagen Eingeweihte. Einige Bürgerschaftsabgeordnete halten die Spannung nicht mehr aus: Karin Krusche und Peter Lehmann springen vor die Bühne, fangen an rhythmisch zuckend zu tanzen.

21.10 Uhr: Die Hochrechner von ARD und ZDF sind sich einig: Die Grünen bekommen 13 Mandate, Trüpel hat es geschafft. Langsam glaubt es wohl auch die Kandidatin selbst. Sie zieht ein Briefchen ihrer Tochter für den Fall des Siegs heraus und umarmt ihren Freund innig. Die Last beginnt abzufallen. Dauernd vibriert jetzt ihr Handy.

21.45 Uhr: Wieder Mützelburg am Mikro. Die Grünen liegen in Bremen-Stadt bei 23,3 Prozent. Jubel. Jetzt tanzen auch Linnert und Klaus Möhle. Erste Gratulanten anderer Parteien treffen ein, darunter auffällig viele Jungliberale.

22 Uhr: Großer Jubel. „Es ist so gut wie sicher, Helga hat es geschafft“, sagt Mützelburg. Auch die Jungs von der FDP klatschen. Und in Bremen liegen die Grünen bei 24 Prozent. Aus den Boxen schallt der Hit „Voulez-vous couchez avec moi, ce soir ?“.

22.40 Uhr: Das Bremer Endergebnis liegt vor, die Grünen sind bei 24 Prozent geblieben. „Es gibt in Bremen keinen anderen Sieger als die Grünen“, sagt Mützelburg. Auf dem Bildschirm plappert gerade Franz Beckenbauer irgendetwas. SPD-Gratulanten treffen ein, Hermann Kuhn hebt seine Lebensgefährtin Helga Trüpel in die Höhe. Sie haben es geschafft.

23.10 Uhr: Dieter Mützelburg nochmal. Er hat den Rechner jetzt beiseite gelegt. Der Landesvorstand gibt allen Anwesenden ein Getränk nach Wahl aus. Grüne Freude allenthalben. Helga Trüpel geht nach Hause, glücklich, ermattet.

Protokoll: Markus Jox