: Amazonische Gefühle
Die schönste Musik der Welt: Einst komponierte der Songwriter Vinicius Cantuária Millionenhits für brasilianische Superstars. Seit der Gitarrist in New York lebt und in die Jazz-Szene eingetaucht ist, wird er weltweit als Erneuerer der Bossa Nova gefeiert
VON MAX DAX
Vinicius Cantuária hat ein sonnengegerbtes, mit feinen Zügen versehenes Gesicht. „Saudade steht in sein Gesicht geschrieben“, dichtete ihm mal eine Zeitung an. Doch Cantuária, der von Rio de Janeiro nach New York zog, um dort seine in Brasilien begonnene Karriere fortzuführen, singt keinen portugiesischen Fado. Vielmehr arbeitet der Songwriter seit über 35 Jahren an immer neuen Verfeinerungen und Raffinagen der brasilianischen Bossa Nova. Doch die portugiesische Chiffre der Saudade, die Präsenz der Abwesenheit, beschreibt die Stimmung seiner Kompositionen recht gut.
Der Mann, der aus der Zusammenarbeit mit brasilianischen Größen wie Marcos Valle, Gilberto Gil und vor allen anderen Caetano Veloso seit den Sechzigern eine große Popularität in Brasilien genießt und dessen letzte drei Soloalben auch in Deutschland veröffentlicht wurden, ist entspannt: Er hat gerade eine Reihe von Presseterminen in den schönsten Metropolen von Portugal, Italien, Frankreich und Spanien hinter sich – alles Länder, in denen Cantuária als neuer Heilsbringer der Bossa Nova gefeiert wird.
In Deutschland kennt man ihn hingegen kaum. Schade eigentlich, denn die Atmosphäre, die Cantuárias Musik vermittelt, ist von großer Intensität: egal, ob der Musiker entkernte Akustikplatten („Sol Na Cara“, 1997), dicht arrangierte, auf präzisen Auslassungen basierende Moods („Tucuma“, 1999) oder zu Tode betrübte, immer an die Liebe glaubende Bossa-Nova-Balladen („Horse And Fish“, 2004) veröffentlichte.
„Ich wurde 1951 in Manaus geboren“, erzählt Cantuária, „das ist die Hauptstadt von Amazonien, mitten im brasilianischen Dschungel. Ich bin mit den Indianern im Urwald groß geworden und prägte mir ihre Melodien und ihr Rhythmusgefühl ein. Die Indianer wohnten auf Stelzenhäusern im Fluss und auf ihren Booten. Ihre Musik konnten wir in unserem Haus hören, wenn wir auf den Balkon traten.“
Um jedoch keine falschen Vorstellungen von völliger Weltabgeschiedenheit aufkommen zu lassen, holt Vinicius Cantuária zur kleinen Geschichtslektion aus: „Amazonien war Anfang des letzten Jahrhunderts ein reiches Land. Dort lebten sehr reiche Farmer, deren Gummibaumplantagen größer waren als so manches Land in Europa“, betont er. „Gummi war das Öl des frühen zwanzigsten Jahrhunderts, und weil der Reichtum dort so groß war, sind die Tanztheater und Sänger aus Europa seinerzeit direkt nach Manaus gereist, um dort aufzutreten. Sie gingen mitunter gar nicht nach Rio und auch nicht nach São Paulo oder Belo Horizonte, sondern sie gingen nach Manaus, weil sie wussten, dass sie dort viel Geld verdienen konnten. Die reichen Farmer haben in Manaus das ‚Teatro Amazonas‘ gebaut. Sie importierten diesen steinernen Musiktempel eigens aus Portugal – ein ganzes Gebäude, um Musik im Dschungel hören zu können, und Stein gewordener Ausdruck einer Liebe zur Musik, die es auch im Regenwald gab.“
Nach dem Tod des Vaters zog die Familie Cantuária von Manaus – dem Ort, der als Vorbild und Kulisse zu Werner Herzogs „Fitzcarraldo“ diente – nach Rio de Janeiro am Atlantischen Ozean. Hinter sich ließ man nicht nur den Amazonas, sondern auch das, was Cantuária heute seine „musikalische Sozialisation“ nennt – eine auf indianischen Rhythmen aufbauende Introvertiertheit, die seine Veröffentlichungen vom Gros der brasilianischen Samba- und Bossa-Produktionen so unterscheidet.
„Ich war 13 Jahre alt, als ich begann, Gitarre zu spielen“, erinnert sich Vinicius Cantuária. „Ich spielte und spielte, und so ging das immer weiter, und als ich irgendwann feststellte, dass ich längst von der Musik lebte, da war ich bereits 16 Jahre alt.“
Samba in Stereo
In Rio stieg der Multiinstrumentalist bald zu einem der gefragtesten brasilianischen Session-Musiker auf und schrieb Millionenhits für Gilberto Gil und Caetano Veloso. Vor allem aber ist Cantuárias Musik bei aller Unaufdringlichkeit die Absicht anzumerken, verwandte Strukturen aus den unterschiedlichen Gegenden, in die es den Sänger verschlagen sollte, aufzugreifen und miteinander zu verschmelzen: Manaus, Rio de Janeiro und schließlich New York sind die Stationen, die sich spiegeln in den Metamorphosen, die seine Musik vom Samba über die Umarmung der Bossa Nova bis hin zum Jazz durchgemacht hat.
Entscheidend waren die Erfahrungen, die Cantuária in Rio de Janeiro machte: „Zum ersten Mal habe ich die schwarzen Menschen aus Afrika gesehen und ihre Spielart des Samba gehört. Den Samba gab es natürlich auch bei uns im Urwald. Aber in Rio hatte ich den Eindruck, dass sie den Samba in Stereo spielten.“
In Europa kennt man die unterschiedlichen Facetten von Rio in der Regel aus Filmen wie „City Of God“ oder aus der Reklame. Cantuária ist bemüht, das Bild gerade zu rücken: „In den Sechzigern gab es in Rio noch keine Gewalt, keine Drogen und keine Slums – dafür Sonne, Musik und Kinos, die europäische Filme zeigten, sowie Strände und eine intakte Mittelschicht. In den Sechzigern war der Radiosender von Rio de Janeiro das wichtigste Medium in unserer Welt: Man konnte den Sender den ganzen Tag laufen lassen und die schönste Musik hören. Außerdem ließen die Nachrichten aus aller Welt in uns eine Ahnung keimen, dass Europa und Nordamerika Kontinente sind, die man einmal in seinem Leben besucht haben muss. Und dann hingen wir immer vor dem Radio, wenn sie die Musik zugunsten der Fußball-Live-Übertragungen unterbrachen. Wir wurden vom Radio erzogen.“
Als Vinicius Cantuária im Mai dieses Jahres ins Berliner Kesselhaus kam, um sein neues Album vorzustellen, verstummte das Publikum respektvoll in dem Moment, wo er den ersten Akkord von Gilberto Gils Bossa-Jazz-Klassiker „Procissão“ dekonstruierte – es bildet zugleich das Eröffnungsstück auf Cantuárias neuem Album. Schon lange nicht mehr hat ein Jazzkonzert so eindringlich geklungen – entschlackt von allen weltmusikalischen Gefälligkeiten. Den Besuchern wird das Konzert lange in der Erinnerung nachhallen, so transzendent und zugleich kohäsiv war der Klangkörper, den der Sänger und seine wortlos spielende Band auf der kleinen Bühne zum Schwingen brachten.
Europäische Gedanken
Das neu aufgeflammte Interesse an seiner Musik – und an brasilianischer Bossa Nova im Allgemeinen – in Europa sieht er in einem größeren Zusammenhang: „Jobim hat Anfang der Sechziger in der New Yorker Carnegie Hall ein historisches Konzert gegeben, woraufhin er all die wichtigen Musiker seiner Zeit kennen gelernt hat, darunter Stan Getz. Mit diesen Jazz-Musikern hat er die Bossa Nova revolutioniert, und wir in Brasilien waren sprachlos vor Respekt angesichts dieses Mutes zur Erneuerung“, greift Cantuária zurück. „Es hat dann mehr als zwei Jahrzehnte gedauert, bis die jungen Leute und vor allem die weltoffenen DJs in Deutschland und in England die Bossa Nova für sich entdecken sollten und mit den Mitteln der elektronischen Musik abermals eine Erneuerung bewirkten. Das war der Moment, wo die Menschen in Europa begriffen, dass die Bossa Nova eine Kunstform ist. Und das ist zugleich der Grund, warum wir brasilianischen Musiker auch heute noch so gern nach Europa reisen. Denn die brasilianische Kultur ist ein Gedanke aus Europa. Der Kreis hatte sich geschlossen, als die Europäer begannen, unsere Musik aufzugreifen.“
Schon 1995 zog Cantuária nach Brooklyn, wo er mit David Byrne und vor allem Arto Lindsay intensiv zusammenzuarbeiten begann. Lindsay produzierte nicht nur Cantuárias erstes Album „Sol Na Cara“, er stellte ihm auch Musiker wie Ryuichi Sakamoto oder DJ Spinna vor. Vor allem aber wurde Cantuária fester Gitarrist in Lindsays Band und tourte mit ihm durch Europa, Japan und Amerika. „Dass wir uns getroffen haben in New York, war reiner Zufall“, glaubt Vinicius Cantuária. „Aber es war ein schöner Zufall, denn zu diesem Zeitpunkt begann auch New York sich für die Bossa Nova zu interessieren. Ich empfand diese Umarmung unserer Musik wie eine Rückkehr des Jazz an den Ort, wo er zur wichtigsten Kunstform des zwanzigsten Jahrhunderts aufgeblüht war. Denn nach Miles Davis hatte der Jazz in den Achtzigern seine Relevanz eingebüßt. Erst mit der Bossa Nova wurde der Jazz in den Neunzigern in einem anderen Körper wiedergeboren. Und das ist gut so, denn die Bossa Nova ist die schönste Musik der Welt: Sie ist melodiös, sie ist rhythmisch, sie ist dabei minimalistisch, sie hat eine Tradition und sie ist dramatisch.“
Euphorie der Erneuerung
Dass Cantuária im Gespräch in einen süßen Singsang verfällt, ist nicht verwunderlich: Auch seine Kollegen Caetano Veloso und Arto Lindsay pflegen in einen schwärmerischen Ton zu verfallen, selbst wenn sie über abstrakte musikalische Themen wie Dekonstruktion, Erneuerung oder die Auflösung der Zwölftonleiter reden. Überraschender ist eher, dass Cantuária, obwohl er vor fünf Jahren von seiner damaligen Plattenfirma Verve zur „Zukunft der Bossa Nova“ erklärt wurde, nach unbefriedigenden Verkaufszahlen seines Albums „Tucuma“ ebenso schnell wieder fallen gelassen wurde.
Umso erfreulicher ist es, dass „Horse And Fish“ (Hannibal/Indigo), Cantuárias drittes Soloalbum seit seiner Übersiedlung nach Brooklyn, zu keinem Zeitpunkt in die Falle des Affirmativen, des Anbiedernden tritt. Die zehn neuen Songs sind in ihrer Komplexität und ihren überraschenden Akkordwechseln eine Reise zurück in die Erinnerung. Die meisten Stücke singt Cantuária in schmeichelndem Brasilianisch, einen einzigen auf Englisch. Rückgrat seiner Band, live wie im Studio, ist übrigens der legendäre brasilianische Schlagzeuger Paul Braga, der über ein Jahrzehnt lang in den Diensten von Tom Jobim stand und mit diesem einige unsterbliche Platten aufnahm.
Mit etwas Glück könnte „Horse And Fish“ daher zur verführerischsten Sommerplatte dieses Jahres avancieren.