: Großvaters Asche
Wieder kehrt ein Berliner heim. Unweit seines Lieblingsphilosophen Hegel findet Herbert Marcuse seine letzte Ruhe – soll aber keine Ruhe geben
aus Berlin THOMAS KNAUF
Die Urne mit Marcuses Asche kam im Rucksack an. Sein Sohn Peter brachte sie am vergangenen Montag mit der Maschine aus New York mit und übergab sie gleich am Flughafen der Bestattungsfirma Grieneisen. In einem schwarzen Cadillac Baujahr 1957 wurde der Plastikbehälter zum Friedhof überführt. Der Leichenwagen ist legendär: Er beherbergte schon die sterblichen Überreste von Marlene Dietrich und zahllosen Berliner Prominenten. Auch für den Cadillac war es am Montag die letzte Fahrt: Er beendet nicht auf dem Autofriedhof, sondern im Verkehrsmuseum sein bewegtes Dasein.
Heute um 10.30 Uhr wird Herbert Marcuse, der deutsche Philosoph und Gesellschaftstheoretiker, der kompromisslose Denker und Marxist, der notorische Zigarrenraucher und Frauenliebling, auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin beigesetzt. Einen Tag vor seinem 105. Geburtstag erhält der hier als Kind eines jüdischen Textilfabrikanten geborene Heidegger-Schüler und Mitbegründer der Frankfurter Schule ein Ehrengrab unweit der Ruhestätte seines Lieblingsphilosophen Hegel.
Rolf-Peter Lange, Firmensprecher bei Grieneisen, ist stolz, den „Vater der antiautoritären Bewegung“ eigenhändig durch Berlin zu chauffieren. Er war 1967 Student an der Freien Universität Berlin, als Marcuse mit seinen Gastvorlesungen über „Repressive Toleranz“ und „Triebstruktur und Gesellschaft“ die 68er-Studentenbewegung inspirierte. Damals kein linker Revoluzzer, schwärmt Lange heute von der intellektuellen Radikalität und dem enormen Charisma Marcuses. „Seine Asche gehört in brandenburgischen Boden“, meint der Bestatter, „damit die preußische Idee der Toleranz und der Gedanke der grundsätzlichen Veränderbarkeit der Welt hier aufgehoben wird für spätere Generationen.“
Vielleicht war es auch der fromme Wunsch, aus Marcuses Asche werde die linke Revolution wie Phönix wiederauferstehen und als Gespenst im postkommunistischen Europa umgehen, der Sohn Peter und Enkel Harold Marcuse spät auf die Idee brachte, den seit seinem Ableben 1979 nie bestatteten Toten in seiner Geburtsstadt zu begraben. Nach jüdischem Gesetz muss ein Verstorbener noch am Tag seines Todes unter die Erde gebracht werden.
Doch Herbert war nicht religiös und hielt sich seit seiner Flucht aus Deutschland fern von Israel in den USA auf, 1940 wurde er US-Bürger. Als Professor der University of San Diego wurde er 1967 die Vaterfigur der amerikanischen Studentenbewegung gegen den Vietnamkrieg und vom damaligen kalifornischen Gouverneur Ronald Reagan zum Staatsfeind Nr. 2 nach dem Drogen-Guru Timothy Leary ernannt.
Ein Jahr später reiste Marcuse an die Brennpunkte der europäischen Jugendrevolte – Paris, Rom und Berlin – und wurde dort ebenfalls bejubelt. Danach beendete er seine Lehrtätigkeit, heiratete 1976 zum dritten Mal und publizierte fern revolutionärer Ortstermine über Karl Popper, Konterrevolution und Revolte, Kunst und Frauenbewegung und attackierte die osteuropäische marxistische Ästhetik.
Wegen seiner entschiedenen Ablehnung des sowjetischen Imperialismus galt er in der DDR als Renegat und wurde an den Unis von Karl-Marx-Stadt bis Rostock im philosophischen Giftschrank verwahrt. 1979 starb er unerwartet an einem Herzinfarkt nach der Teilnahme an den Frankfurter Römerberggesprächen bei einem Besuch am Starnberger See. Weil es dort kein Krematorium gab, wurde die Leiche in Salzburg eingeäschert und per Luftpost nach New Haven, Connecticut überführt. Dort verblieb die Urne auf unbestimmte Zeit in Weller’s Funeral Home, einem Bestattungsinstitut, weil Marcuse sich über das Jenseitige seiner Existenz kaum den Kopf zerbrochen hatte. In seiner Wahlheimat USA wollte er nicht begraben sein, am liebsten war ihm der Gedanke, dass seine Asche bei Torrey Pines über dem Pazifik ausgestreut wird, wo er zwischen den Vorlesungen oft und gern am Strand spazieren ging.
Nachdem Ricky, so der Spitzname seiner seiner letzten Frau Erica, 1988 an Krebs gestorben war, realisierte Peter Marcuse als erstgeborener Sohn lange nicht, dass er jetzt für die Asche seines Vaters zuständig war. Als Professor für Stadtplanung an der New Yorker Columbia-Universität hatte er Wichtigeres zu tun, als dem Vater eine Nekropole zu bauen. Im Sommer 1989 reiste Peter Marcuse mit seiner Frau Frances in die DDR, um die dortige Stadtplanung zu studieren. Am 7. Oktober landete er stattdessen im Rummelsburger Knast, weil er an Demonstrationen gegen die Honecker-Regierung teilgenommen hatte. Die Eindrücke vom Herbst des Patriarchen schrieb Peter Marcuse in dem Buch „Missing Marx“ nieder.
Einer seiner Studenten aus Antwerpen stellte im Jahre 2001 die bisher verdrängte Frage „Wo ist Herbert Marcuse begraben?“ mit Nachdruck an die Hinterbliebenen. Der Enkel des Philosophen, Harold, Dozent für deutsche Geschichte in Santa Barbara, nahm sich des Problems an und plädierte trotz innerer Vorbehalte wegen Auschwitz und der Neonazis für Frankfurt am Main oder Berlin als finale Heimstätte für Großvater Herberts Asche. Durch die Freundschaft mit dem ostdeutschen Architekturtheorektiker Bruno Flierl und dessen Sohn Thomas kam die Sache dann ins Rollen.
Der Berliner Kultursenator organisierte ein Ehrengrab auf dem dramatisch unter Platzmangel leidenden Dortheenstädtischen Friedhof. So reicht es für den in Westberlin groß gewordenen und von den Nazis vertriebenen Philosophen nur für eine Grabstätte von knapp ein mal einem Meter neben dem sozialistischen Komödienstadler Rudi Strahl, dem Antibrechtianer Fritz Erpenbeck und der begabten Parteidichterin Hedda Zinner. Auch Honoratioren können sich derzeit in Berlin, wo mehr Leute sterben als geboren werden und mehr weg- als zuziehen, ihre Friedhofsnachbarn nicht mehr aussuchen.