: Reifeprüfung des Teenies
Dank des 18-jährigen Wayne Rooney siegt das englische Nationalteam in seinem zweiten Spiel der Gruppe B mit 3:0 gegen die Schweiz und hält sich damit die Chance auf ein Weiterkommen offen
AUS COIMBRA MATTI LIESKE
Bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1958 tauchte völlig aus dem Nichts ein 17-Jähriger namens Pelé auf und schoss Brasilien zum Titel. 1980 in Italien führte ein international ziemlich unbekannter blonder Jüngling das deutsche Team fast im Alleingang zum EM-Gewinn. Fortan war Bernd Schuster ein Weltstar, und der FC Barcelona sicherte sich seine Dienste. 1984 war es der Belgier Enzo Scifo, der, zuvor nur wenigen bekannt, in Frankreich für Furore sorgte. Solche Überraschungen gibt es heute nicht mehr. Die jungen Supertalente sind früh gesichtet, allgemein bekannt, längst bei großen Klubs unter Vertrag oder bei U20- und U21-Meisterschaften im Rampenlicht. Sogar ein 14-Jähriger wie Freddie Adu schießt seine Tore schon in der Major League Soccer für Washington und steht unter ständiger Beobachtung, der 19-jährige Portugiese Cristiano Ronaldo stürmte in der Champions League für Manchester United. Und auch Wayne Rooney vom FC Everton ist fast schon ein alter Bekannter.
„Ein phänomenales Talent“ nennt Englands Coach Sven Göran Eriksson zunächst den kräftigen 18-Jährigen, der mit seinen beiden Treffern beim 3:0 gegen die Schweiz am Donnerstag im Estádio Municipal von Coimbra zum jüngsten Torschützen der EM-Geschichte wurde. Dann korrigiert er sich: „Talent kann man eigentlich nicht mehr sagen. Er ist reif für jede Stufe.“ Viel höher, als „Man of the Match“ in einem hochwichtigen EM-Spiel zu werden, kann die Stufe kaum noch sein. Auch der Schweizer Trainer Köbi Kuhn ist voller Bewunderung für den Youngster aus Liverpool, der schon zwei Jahre Premier League hinter sich hat, und vergleicht ihn mit seinem eigenen 18-Jährigen, dem Angreifer Johann Vonlanthen. „Mein Spieler hat längst noch nicht die Reife von Rooney“, sagt Kuhn, der Vonlanthen nur wenige Minuten Einsatzzeit gönnte. „Man muss die beiden doch bloß anschauen, dann sieht man den Unterschied.“
In der Tat. Mit Robustheit, Entschlossenheit, Kampfkraft und einem tendenziell rotzigen Selbstbewusstsein ausgestattet, zeigt Rooney auf dem Spielfeld große Präsenz und wirkt keineswegs wie ein 18-Jähriger. Erst wenn er in der Pressekonferenz Auskunft über seine Errungenschaften geben soll, scheint der Teenager ein wenig durch. Aber auch hier schlägt er sich gut. Im schönsten Liverpudlian-Slang gibt der vierschrötige Jüngling, der in jedem Sozialdrama von Ken Loach eine tragende Rolle spielen könnte, knappe Statements von sich. „Wir haben ganz gut gespielt, aber wir hätten noch besser spielen können“, analysiert er die über weite Strecken recht lethargische Partie seines Teams, sein zweites Tor bezeichnet er nach einigem Nachdenken als das wichtigste seiner bisherigen Karriere: „Bis dahin waren die Schweizer noch im Spiel, das hat sie gekillt.“
Eriksson machte vor allem die große Nervosität in dem Alles-oder-nichts-Match für die schlappe Darbietung seiner Mannschaft verantwortlich, die weit von der kraftvollen und dynamischen Performance beim tragischen 1:2 gegen Frankreich entfernt war. „Wir konnten den Ball nicht sichern“, bemängelte der Schwede und fügte leicht despektierlich hinzu: „Wenn man die vier Namen in ihrem Mittelfeld liest, hätten wir das weit besser tun müssen.“ Vor allem in der ersten Halbzeit, aber auch noch nach der gelb-roten Karte für Bernt Haas in der 60. Minute durften die Schweizer recht unbeschwert walten. Allerdings hatten sie keinen Schimmer, wie sie ein Tor erzielen sollten, gefährlich waren sie höchstens bei Freistößen. In der erheblich größeren Angriffseffektivität der Engländer lag der entscheidende Unterschied, und dieser war vor allem David Beckham, Steve Gerrard und Wayne Rooney zu verdanken. Die einen bereiteten zielsicher vor, der andere war immer zur Stelle, wenn ein Ball in den Strafraum flog. Vor allem bei seinem Treffer zum 2:0 demonstrierte Rooney seinen Torinstinkt. Ein Abspiel schien die einzige Möglichkeit, doch plötzlich zog der Stürmer den Ball scharf aufs kurze Eck, völlig überraschend für Keeper Jörg Stiel. „Zum Glück habe ich genug drauf gepackt“, liverpoolte Rooney und fügte hinzu, dass er bei seinem Kopfballtor zum 1:0 ja kaum was machen musste: „Das hat Michael perfekt vorgelegt.“
Mit Michael Owen und Wayne Rooney haben die Engländer ein brandgefährliches und vor allem unorthodoxes Stürmerduo, das auch schon die Franzosen in Kalamitäten gebracht hatte. „Es ist gewiss nicht die klassische Kombination ‚einer groß, einer schnell‘, sagt Eriksson, „aber sie spielen gut zusammen.“ Beide sind ziemlich klein, doch der Spielwitz von Owen, der seinerseits bei der WM 1998 als 18-Jähriger für Aufsehen gesorgt hatte, und die Brecherqualitäten von Rooney, der als Mittelstürmertyp am ehesten an Uwe Seeler erinnert, stellen jede Abwehr vor Probleme. Wenn es läuft bei den Engländern, haben sie dank der Sturmläufe von Gerrard, Lampard und Ashley Cole sowie der Übersicht und der Flanken von Beckham eine Vielzahl von Optionen für das Herausspielen von Torchancen. Die werden sie am letzten Spieltag der Gruppe B, in der nach dem 2:2 zwischen Franzosen und Kroaten sogar die Schweizer noch Chancen aufs Weiterkommen haben, gegen Kroatien auch brauchen, um den fehlenden Punkt zu holen. Wayne Rooney aber, das lässt sich vorhersagen, wird in einigen Jahren ein Furcht erregender Fußballstürmer sein. Es sei denn, er legt noch ein paar Pfunde zu und geht als hoch bezahlter Running Back zur National Football League in die USA.