Jenseits der Glasglocke

Eigentlich sind im Hamburger Villenviertel Groß Flottbek alle Menschen willkommen. Sein Flüchtlingsdorf muss trotzdem am 30. Juni schließen. Einige Bürger kämpften hartnäckig um das Vorzeigeprojekt gelungener Integration, haben die Idee von Nachbarschaft praktisch umgesetzt – und scheiterten dennoch

VON SUSANNE LANG

Manchmal kommt ihr Zorn sachte. Traute Bieger lächelt. Schiebt die beiden Gebäckschälchen auf ihrem Couchtisch etwas in die Mitte, einmal süß, einmal salzig. Ihre freie Hand spielt mit der schwarzen Lesebrille, die sie immer wieder aufsetzen wird, wenn sie aus all den Schriftstücken zitieren wird. „Diese Wut …“, setzt sie an, „… wir alle sind einfach traurig.“

Wir, das sind ihre Mitstreiter der Groß Flottbeker Bürgergruppe „Brückenschlag“, Pastor Ingo Lembke und Adelheid Meyerholz. Draußen scheint die Sonne, obwohl es kurz und kräftig schauert. Die Blätter der Bäume rascheln, fern brummt leise ein Rasenmäher. Wenn nicht gerade eines der siedlungstypischen Automobile, Mercedes oder Rover, durch die Straßen rollt, ist es still in Groß Flottbek.

Groß Flottbek? Zehn Autominuten von der Mitte Hamburgs entfernt, eine Kirche, ein Wochenmarkt, eine Einkaufsstraße, ein Botanischer Garten. Ein Dorf, kein Stadtteil. Bauern- und Landhäuser, bis zu zwei Jahrhunderte alt, als Groß Flottbek vor allem aus Wiesen und Feldern bestand. Hier kommt das Leben zur Ruhe. Man hält auf gedämpfte Tonlagen. Wer wütend ist, muss nicht brüllen, um aufzurütteln.

Traurig sind Bieger und die anderen, weil jetzt vorbei sein soll, was sich so gut entwickelt hatte: ein Zusammenleben mit den neuen Dorfbewohnern. Eigentlich sind in dieser Gegend alle gern gesehen, bei denen Geld nur eine dienende Rolle spielt. Jedenfalls muss das Aussiedler- und Flüchtlingsdorf am Hemmingstedter Weg, mitten zwischen den gediegenen Häusern all der Ärzte-, Anwalt- und Maklerfamilien, Vorzeigeprojekt für gelungene Integration, am 30. Juni schließen. Nach 14 Jahren. Mit den Stimmen von CDU und den Grünen, die ihr Wahlversprechen erfüllen und ja nur einen Beschluss der früheren SPD-Regierung umsetzen.

Vorzeigeprojekt gelungener Integration? „Manche Flottbeker waren zehn Jahre dabei“, erzählt Adelheid Meyerholz, „wir haben den Kindern bei Schulaufgaben geholfen, mit ihnen Deutsch gelernt oder die Tee- und Nähstube organisiert.“ Treffpunkte vor allem für die Frauen. Drogenprobleme? Kleinkriminalität? Keine Spur. Die Kinder beispielsweise avancierten in den Schulen glänzend.

Was 1990 mit einer neuen, von der Kirche getragenen Kindertagesstätte für Aussiedlerkinder, also praktischer Lebenshilfe im Alltag begann, entwickelte sich also rasch zu etwas, das nicht nur einem Multikultibewusstsein entspringt, sondern für Nachbarschaften sehr üblich ist: Austausch und gegenseitiges Kennenlernen der Menschen, mit denen man Haus an Haus wohnt. Oder Pavillon an Pavillon.

Heime, die aussehen wie schwedische Ferienhäuser

Zwischen den roten Holzhäuschen am Hemmingstedter Weg, die eher wie schwedische Sommerhäuser denn Asylheime aussehen, ist es ruhig geworden. Wo einst 422 Flüchtlinge lebten und sich langsam eine Zukunft in Hamburg aufbauten, leuchten nun grüne Rasenflächen, auf denen nur ab und an ein Grashalm durch Fußspuren geknickt ist.

„Wir haben sehr viel gelernt“, sagt Pastor Lembke. Zum Beispiel, dass es „die Afghanen nicht gibt“. Nachdem er lange Zeit nicht verstehen konnte, dass die Menschen im Dorf nicht fester zusammenhielten. Erfahrungen, weshalb Integration nicht per Order durchführbar ist. Zu verhindern hingegen schon. Dass die Stimmung gegen das Dorf gekippt ist, lag an einem Beschluss, der vor sieben Jahren getroffen wurde. Die Belegung des Dorfs auszuweiten auf Flüchtlinge aus Afghanistan.

„Damals“, sagt Traute Bieger, „waren viele verärgert, weil sie nicht informiert wurden.“ Vor allem viele, die sich zuvor engagiert hatten für das Dorf und ihre Bewohner. „Die Glasglocke, plötzlich war sie da.“ Ein treffendes Bild, mit dem sie kurz zuvor die Stimmung in angrenzenden Viertel wie Klein Flottbek oder Nienstedten beschrieben hatte. Eine Glasglocke, die sich über das Leben stülpt, bis man irgendwann an der eigenen Luft erstickt. Eine geschlossene Gesellschaft, die vor allem Wert legt, dem Prestige der echten, elbnahen Villenviertel nahe zu kommen. Der Wert der Grundstücke, so glauben viele, werde jedenfalls durch das Dorf gemindert.

Dabei ist Bieger stolz, dass in ihrem Groß Flottbek Sozialwohnungen direkt neben gut bürgerlichen Häusern gebaut sind. Dass Flüchtlingsheime in ihrer Welt genauso Platz finden wie das Landgasthof-Hotel oder der feine Reitverein mit französischem Restaurant, das Froschschenkel für knapp zehn Euro anbietet – Luxus, aber erschwinglich. „Wir sind nicht hochnäsig“, sagt Lembke. „Auch wenn dies das Image des Stadtteils ist.“

Wobei es viele Groß Flottbeker, wo in den Gärten gern hanseatische Flaggen gehisst werden, genau darauf anlegen. Der Immobilienmakler Andreas Grutzeck zum Beispiel, der genau gegenüber vom Hemmingstedter Weg wohnt. Und für die CDU aktiv ist. Oder der Optiker Dirk-Peter Lühr, mit dessen Filiale die gediegene Einkaufsmeile Waitzstraße in das Tempo-30- Wohngebiet übergeht. Lühr engagiert sich ebenfalls in der Initiative Bürgerbegehren Groß Flottbek e. V., gegen das Flüchtlingsdorf. Schlechtes Gewissen? Nein. Warum auch? Würde das Wahlversprechen gebrochen, verlöre die Bevölkerung das Vertrauen in die Politik. So sehen er und seine Mitstreiter den Fall.

Die Leute vom „Brückenschlag“ hatten sich auf ihre Weise mit diesem Argument auseinander zu setzen. Es sind ja keine Umstürzler. Leute wie Ingo Lembke („Ich bin eine Jung-68er“), die früh pensionierte Studienrätin Traute Bieger und die ehemalige Zeit-Redaktionsassistentin Adelheid Meyerholz. Hanseatisches Bürgertum, das mit ehrenamtlichem Einsatz so etwas wie das praktische Pendant zum traditionellen Stiftungs- und Mäzenatentumwesen der Stadt lebt. Sie haben nach Gründen gesucht, noch einmal eine Anfrage gestellt an die Bürgerversammlung, an die CDU, an die Grünen, an die Sozialsenatorin, an den Rechnungshof. Warum wird die Kostenrechnung des Dorfes nicht detailliert offen gelegt? Wieso kann der Schließungstermin nicht flexibler und mit mehr Menschlichkeit gehandhabt werden?

Traute Bieger blättert in ihrem Ordner und zitiert aus den Antworten der Bezirksversammlung: „Der Bedarf an öffentlicher Unterbringung ist rückläufig.“ Oder: „Hierbei handelt es sich um keine fachliche Frage, die das Amt beantworten kann.“ Oder: „Die Behörde für Soziales und Familie hat offen gelegt, dass die Kosten des Rückbaus voraussichtlich unter den laufenden jährlichen Aufwendungen für den Betrieb liegen.“

Über Behördenignoranz haben sie viel gelernt

Vor allem aus dieser Antwort, sagt Lembke, haben sie gelernt: wie Informationsfluss und Transparenz bei Behörden aussähen. Um die offizielle Aussage, ein Abriss des Dorfs sei billiger, zu prüfen, stellten sie eine Anfrage an den Bundesrechnungshof. „Uns war erst nach der Antwort klar, dass der seine Informationen bei der Behörde bezieht.“

Lembke ist dennoch stolz darauf, angefragt zu haben. Auch wenn es dem Dorf im Dorfe nicht mehr helfen wird. Ja, das Dorf. Mittlerweile geht es um Grundsätzliches bei der Gruppe „Brückenschlag“. „Natürlich haben wir nichts erreicht, aber wir haben es versucht“, resümiert Bieger. „Die SPD tut ja gar nichts“, wirft Meyerholz ein. „Ja, was sollte sie denn auch tun, was kann sie tun?“, fragt Lembke. „Das ist doch eine gewollte realpolitische Entscheidung.“ Traute Bieger meint: „Die SPD könnte eine andere Richtung vertreten, Politik ist ein Raum der Öffentlichkeit für verschiedene Standpunkte, nicht für Prozentfragen.“

Nur darum geht es diesen Bürgern in Groß Flottbek. Um Wachsein, um Einmischen in das, was in der Nachbarschaft geschieht – nicht um Grundstücke und Renditen. „Was mich die ganze Zeit sehr wütend gemacht hat“, sagt Bieger, „war die Einstellung: ‚Die Beschlüsse sind gefällt, das kann ich nicht ändern‘.“

Selbstverständlich habe sie oft gezaudert und sich geärgert über die Bürokratie. „Aber sie ist unser einziges Mittel, das muss man nutzen.“ Plötzlich lächelt Traute Bieger. Ihr ist etwas eingefallen, das sie unbedingt erzählen wollte. „Endlich hat es geklappt, wir haben eine Wohnung für Atifa gefunden!“ Zum ersten Mal ist ihre Stimme lebhafter, lauter. Gleich wird sie noch einmal zu der Afghanin Atifa und ihren vier Kindern fahren.

An der Tür ihres Pavillons werden Traute Bieger sechs dunkle strahlende Augen begrüßen, die Hände schütteln, kurz knuffen, ein „Hallo, Frau Bieger“ rufen und an ihrem kleinen Couchtisch, eingepfercht zwischen Stockbett, Schrank und Fernseher, in dem kleinen Wohnzimmer des Holzhauses Kuchen, Limonade und Kekse anbieten. Die beiden Töchter werden von ihrem Ausflug nach Berlin zum Girls Day erzählen, von ihren Abschlussprüfungen an der Realschule, ihren Lehrstellen und der neuen Wohnung – obwohl sie die Freunde aus Groß Flottbek vermissen werden. Auch Traute Bieger und die anderen.

„Wir finden schon wieder etwas, für das wir uns engagieren“, sagt Traute Bieger. Was nicht als Drohung zu nehmen ist. Pastor Lembke schüttelt den Kopf. „Wir müssen das alle noch verarbeiten“, sagt er ehrlich, „es hat uns alle ratlos gemacht, wie so etwas wie der Erfolg der Schill-Partei in Hamburg passieren konnte.“

Ihre Welt war schon immer größer als jene Groß Flottbeks.