: Der Charakterkopf hinter der Maske
Zeit seines Lebens wurde der Schauspieler Peter Lorre auf die Rolle des Bösewichts verpflichtet: In Fritz Langs „M“ spielte er den gesuchten Kindermörder, in Hollywood gab er stets undurchsichtige Typen wie den Serien-Detektiv „Mister Moto“. Diese Woche wäre er 100 Jahre alt geworden. Eine Würdigung
VON JÖRG BECKER
Zunächst ist da dieses unfassbare Gesicht, so oft betastet und schattenverhüllt. Es strahlt Abwesenheit aus, größten Abstand zur Wirklichkeit. Wann erschien ein Schauspieler auf der Leinwand jemals so weit fort von den Dingen, fast widerstrebend ins Geschehen hineingestoßen wie Peter Lorre? Seine Filme sind eine Universalstudie über das Gesicht des Schauspielers – die Maske, das gespaltene Gesicht, das Spiegelbild. Oft berührt Lorre das eigene Gesicht wie etwas Fremdes, als könne er nicht begreifen, was in ihm wohnt. Es wuchert; es kann alles sein – verzweifelt, dämonisch, uralt oder kindlich, Jäger und Gejagter.
In dem kürzlich erschienenen Band „Peter Lorre – Ein Fremder im Paradies“ beschreibt Elfriede Jelinek Peter Lorre im Sinnbild eines „Jokers“, gleichsam vorgeschickt aus dem Nichts, um die Lücke zwischen dem, was ist, und dem, was erscheint, zu schließen, damit man es sieht, dieses Nichts. Indem Lorre sich zeigt, schreibt Jelinek, ist er weiter weg als jeder andere Schauspieler. „Peter Lorre ist ein Schauspieler im andauernden Kindstatus, der alles weiß und gleichzeitig schuldig wie unschuldig ist.“
Mit der Hauptrolle in Fritz Langs „M“ (1931) gelang dem Bühnenschauspieler Peter Lorre ein unübertrefflicher, legendärer Einstieg in den Film; das Rollenbild des verfolgten Triebtäters war eine Weichenstellung. Fritz Lang traf mit diesem Film die Atmosphäre in Deutschland kurz vor dem Machtantritt der Nazi-Regierung, indem er in seiner Fahndungsstory die Differenz zwischen Polizei und Unterwelt auflöste. Während der Ordnungsapparat auf der Suche nach dem Kindermörder Beckert die Stadt über Rasterfahndung erschließt, führt die Unterwelt ihren eigenen robusten Krieg, um Beckert auszumerzen: Sie ist die „bessere“ Polizei.
Das Kreidezeichen auf der Schulter des Mörders erscheint wie ein Vorbote des gelben Sterns. In der gehetzten, zerrissenen Gestalt, klein und schwammig, sieht man das Opfer einer unentrinnbaren Angst vor sich selbst. Ein Fall für die Psychiatrie oder ein Monster?
In der Rolle des Triebmörders in „M“ steckte immerhin ein gesellschaftlicher Entwurf, für den jedoch nach Lorres Emigration den US-Studios das Verständnis abging. Gerade deshalb vielleicht wird die Figur des getriebenen Täters für Lorre-Rollen in den USA so trivial. Sie ist seine Referenz und scheint wie ein unheimlicher Umriss all seine späteren Rollen zu umgeben.
Ladislav Loewenstein alias Peter Lorre, ein Jude aus den ungarischen Karpaten, verlässt Deutschland kurz nach dem Reichstagsbrand am 4. März 1933. In den zwei Jahren davor hat er an acht Spielfilmen mitgewirkt, an Ufa-Erfolgen wie „Die weiße Macht“ mit ihm als glatzköpfigem Rauschgiftdealer oder „F.P 1 antwortet nicht“, in dem er als unbedarft ängstlicher Charge neben Hans Albers auftritt. Schon bei der Ufa lachte man gern auf seine Kosten.
Seine ständigen Engagements in den meisten großen Hollywood-Studios ergeben nur scheinbar eine Erfolgsfilmografie. Häufig wurde er – ein übliches Verfahren gegenüber Emigranten aus Deutschland – für Antinazifilme engagiert und zunehmend für marginale, chargenhafte Figuren gecastet, die sein zwielichtiges Image ausbeuteten. Seine Subversion am Set bestand darin, mehr zu geben, als man von ihm als Schauspieler verlangte. Doch dem Type-Casting, der industriellen Form der Personenbedeutungen im Hollywood-Film, konnte Lorre nicht entkommen.
Nach der Rolle eines ausländischen Terroristen in Hitchcocks „The Man Who Knew Too Much“ (1934) spielte Lorre eine Pygmalion-Figur, den wahnsinnigen Arzt Dr. Gogol in „Mad Love“ (1935), und im selben Jahr den intellektuellen Verbrecher Raskolnikow in Josef von Sternbergs Dostojewski-Film „Schuld und Sühne“. Hier endete auch schon der Ausflug in den Kunstfilm, zu dem Karl Freund, der Kamera-Emigrant aus dem deutschen Stummfilm („Der Golem“) für „Mad Love“ das expressionistische Licht mitgebracht hatte. Wieder bei Hitchcock sieht man Lorre als kalte, gewissenlose Satyrgestalt in „Secret Agent“ (1936).
Als verschlagener japanischer Detektiv „Mister Moto“ wurde er, als Leihgabe, von der Twentieth Century-Fox auf eine Serie von acht B-Pictures festgelegt. In der Rolle des durchtriebenen Jägers war Lorre nun in der Bilderindustrie angekommen; „air of mystery surrounds his activities“ schrieb Variety 1937. Seine Undurchsichtigkeit kam einem Hollywood-Protagonisten mit liebenswürdigen Seiten zugute.
Lorres ideales Milieu bestand im Schwarz-Weiß der hard boiled stories des film noir. In Boris Ingsters „Stranger on the Third Floor“ (1940) erschien er in punktuell beleuchteten Szenerien und im Streulicht, das mit Dämonie versprechender Wirkung Partien seines Gesichts streift: Lorre tritt aus dem Dunkeln in einen Lichthof. Zwei Jahre später gab er den Guillermo Ugarte in Michael Curtiz’ „Casablanca“: einen geduckten Mann im Besitz der kostbaren Blanko-Visa.
Christian Petzold hat den Film „The Face Behind the Mask“ (Regie: Robert Florey, 1941) als Allegorie auf Lorres Karriere in Hollywood beschrieben: Der gutwillige und ehrlich arbeitende Einwanderer aus Ungarn verliert bei einem Brandunglück sein Gesicht. Was ihn vom Selbstmord abhält, bringt ihn in kriminelle Zusammenhänge – ein zweites Gesicht wird angefertigt, zwischen Lorres Gesicht und der nachgebildeten Maske gibt es eine undeutliche Übereinstimmung. Hollywood beließ es bei der Maske.
Die US-Filmindustrie kaufte mit Lorre ein Rollen-Image, zugleich stellte sie die Verfügbarkeit dieser Kulturtrophäe aus. Zunächst wurde er verliehen oder machte bezahlten Urlaub auf der Reservebank, wie manche Helden im heutigen Fußballgeschäft, die nicht ins Konzept passen. Für Hollywood verkörperte Lorre immer ein gespenstisch-zerquältes Europa – „continental“ und „esoteric“ – , meist war seine Herkunft schwer bestimmbar, irgendwo zwischen Asiaten und Latinos, ihn umgab eine polymorphe Fremdheit, die sich am Ende selbst zerstört. Das Böse ist in der Neuen Welt nur zum Erschrecken da, der Bösewicht folglich ein Spezialgebiet, das an Exilanten aus dem Alten Europa, aus der Vergangenheit, delegiert wurde. Als Lorre 1946 nach der Kündigung seines Studiovertrags mit Warner Brothers vor der Pleite stand, rezitierte er auf Gruseltourneen aus Werken von Dostojewski und Poe.
In Lorres Nachlass fand sich ein Gedicht Brechts, „Der Sumpf“: „Manche der Freunde sah ich, und den geliebtesten / Hilflos versinken im Sumpfe, an dem ich / Täglich vorbeigeh. […] Hilflos nun sah ich ihn zurückgelehnt / Bedeckt von den Blutegeln / In dem schimmernden / Sanft bewegten Schlamm. Auf dem versinkenden / Antlitz das grässliche / Wonnige Lächeln.“
In Brechts und Lorres wechselseitiger Wertschätzung konservierte sich etwas vom politischen Kunstverständnis aus der späten Weimarer Republik, nach dem Mensch und Welt zu verändern seien. Als der Dichter in Hollywood ankam, zehn Jahre nach Lorres Auftritt als Gally Gay in Brechts „Mann ist Mann“-Inszenierung (1931), konnte weder Lorre seinem verehrten Brecht die Türen zu den Studios öffnen, noch vermochte Brecht den Freund mit seinen erfolglosen Exposés von der Image-Fixierung als enemy alien zu befreien. „Höre, wir rufen dich zurück. Verjagter / Jetzt sollst du wiederkommen. […] Und nichts anderes mehr / Können wir dir bieten, als dass du gebraucht wirst“, heißt es in Brechts „An den Schauspieler P. L. im Exil“. Auch die Offerte, den Hamlet in Brechts Ensemble zu spielen, schlug Lorre aus, nachdem er nach Deutschland zurückgekehrt war und sich in einer Klinik von seiner Morphiumsucht kurieren lasse wollte. Noch vor dem Krieg hatten sich die Nazis der Fiktion bedient und Passagen aus „M“ in ihre antisemitischen Hetzfilme einmontiert. Lorre war als Monstrum ausgestellt worden, um zu zeigen, wie das Wesen des Juden sei.
Nun stand der Dreh seines eigenen Films „Der Verlorene“ (1951) bevor. Lorre war Hauptdarsteller, Regisseur und Autor; inspiriert hatte ihn eine Zeitungsnachricht aus dem Nachkriegsdeutschland. Es ist die Geschichte eines Arztes, der während der Nazizeit aus Eifersucht seine Braut erschlägt, nachdem sie seine Forschungsergebnisse aus Tierversuchen an seinen Assistenten, einen Gestapo-Spitzel, verraten hatte. Die Gestapo hindert den Arzt, diese Tat zu sühnen; seine Entdeckungen sind für sie kriegswichtig. Nach dem Krieg begegnet er seinem Nazi-Assistenten wieder, der keinerlei Reue zeigt. Er erschießt ihn, dann nimmt er sich selbst das Leben. Was zählt die einzelne Tat, wenn doch der Staat von seinem Tötungsmonopol Gebrauch macht, indem er Millionen industriell umbringt?
„Der Verlorene“ (1951) zeichnete den deutschen Faschismus ähnlich genau nach, wie ihn „M“ vorgezeichnet hatte. In der westdeutschen Nachkriegsöffentlichkeit traf der Film auf breite Ablehnung, eine Fühllosigkeit gegenüber Trauer und Sühne. Vergeblich wartete Lorre auf Rollenangebote. 1954 kehrte er in ein verändertes Hollywood zurück.
Die letzten zehn Jahre bis zu seinem Tod 1964 kommen einem Ausverkauf seines Images gleich. Die Studios gebrauchen ihn nur noch als karikaturistisch überzeichnetes Selbstzitat. In vielen seiner Nebenrollen, den bösen, alten, perversen Tyrannenfiguren, und in den Kleinstauftritten in B- und C-Movies, Fernsehserien, TV-Comedies ist Lorre nur noch präsent, liefert Text ab, schneidet Gesichter.
Aber – so Georg Seeßlen in seinem Beitrag zu „Peter Lorre – Ein Fremder im Paradies“: „Die Pointe seiner späten Filme ist, dass man nicht nichts tun kann.“ TV-Jobs absolvierte der auf den bad man of the movies verpflichtete Lorre nach eigenen Worten wie „Latrinendienste“. Nur seine bleischweren Augenlider wollten sich beständig schließen über einem Blick, aus dem die Vergeblichkeit allen Tuns sprach.
Michael Omasta, Brigitte Mayr, Elisabeth Streit (Hg.): „Peter Lorre – Ein Fremder im Paradies“. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2004, 271 Seiten, zahlreiche Abb., 19,90 €