: Die Wahrheit liegt auf Grund
AUS GUILVINEC DOROTHEA HAHN
„Kommt schnell! Wir kentern“, ruft Kapitän Yves ins Mikrofon. Über Funk gehen seine letzten Worte an die Fischerboote, die im Umkreis von 40 Kilometern ihre Netze ausgeworfen haben. Und an die Seenotstation im nächsten Hafen, dem britischen Falmouth. Die ersten Helfer treffen 20 Minuten später am Unglücksort ein. Starker Dieselgeruch zeigt ihnen, dass sie richtig sind.
In dem 10 Grad kalten Wasser schwappen Fischkisten aus gelbgrauem Plastik, eine orangefarbene Schwimmweste und die Körper von Kapitän Yves und Matrose Pascal. Beide mit dem Gesicht nach unten. Von der 24 Meter langen „Bugaled-Breizh“ und drei weiteren Männern Besatzung fehlt jede Spur. Einigen französischen und britischen Helfern, die bis Einbruch der Dunkelheit nach Überlebenden suchen, fällt ein niederländisches U-Boot auf. Die „Dolfijn“ kreuzt am Unglücksort an der Oberfläche.
In der Seefahrtsstatistik macht der Untergang des bretonischen Trawlers am 15. Januar rund 25 Kilometer vor Kap Lizard an der Südwestspitze von Cornwall eine Zeile aus: „Zwei Tote, drei Vermisste“. Routine in einem der dichtestbefahrenen Seegebiete der Welt. Wo keine Woche ohne Unfall vergeht. Wo sich diverse Transportrouten kreuzen und wo wegen der immer noch großen Bestände an Doraden, Makrelen und Seeteufeln auch Fischer aus ganz Europa ihre Netze auslegen. In diesem Gedränge kommt es vor, dass Fischerboote von Containerfrachtern gerammt werden, die zehnmal größer sind als sie. Manchmal begehen die Großen anschließend Fahrerflucht.
Auf dem 300 Kilometer entfernten bretonischen Festland ist der Untergang der „Bugaled-Breizh“ schon nach wenigen Minuten die Hauptnachricht. Rémy Gloaguen, 38, hört sie im Radio seines Lastwagens. Zwei Stunden später weiß er, dass sein drei Jahre jüngerer Bruder Patrick, zweiter Mechaniker an Bord, einer der Vermissten ist.
Die Brüder Gloaguen sind im bretonischen Bigouden aufgewachsen. Einer Region, wo die salzige Seeluft bis hinein in die guten Stuben weht. Patrick wurde mit 14 Seefahrer. „Er wollte nicht mehr zur Schule gehen“, sagt der Ältere. Rémy hielt sich von der Fischerei fern: „zu hart, zu gefährlich und nicht einmal besonders gut bezahlt.“ Er blieb an Land und heiratete Nathalie, die in einer Fischkonservenfabrik arbeitet. Erst seit dem Untergang des Trawlers mit dem Namen „Kinder der Bretagne“ weiß er, dass die linke Schiffsseite „Backbord“ und die rechte „Steuerbord“ heißt.
In Guilvinec, dem zweitgrößten Fischereihafen Frankreichs, laufen Katastrophenmeldungen zuerst bei Robert Bouguion ein. Der Präsident des Fischerkomitees ist zuständig, wenn der Treibstoffpreis steigt, wenn die Fischauktion in der Halle unter seinem Büro ins Stocken gerät und wenn ein Schiff in Seenot gerät.
Der 52-Jährige ist selbst 30 Jahre lang zur See gefahren. Wie viele Fischer aus Guilvinec hat auch er dramatische Begegnungen mit Containerfrachtern erlebt. Oft steht bei den „fünfstöckigen Ozeanriesen“ niemand auf der Brücke und beobachtet den Radarbildschirm. Hat sich ein Frachter einem fischenden Trawler erst auf Sichtweite genähert, ist die Katastrophe nicht mehr weit. Der Große braucht Kilometer zum Bremsen. Der Kleine kann wegen des langen Schleppnetzes kaum manövieren.
Wie viele Kollegen ist auch Bouguion auf See U-Booten begegnet. Und natürlich kennt er Fischer, die schon mal ein U-Boot im Netz gehabt haben wollen, das sie „beinahe“ in den Untergrund gezogen hätte. „Das kommt vor“, versichert er.
Als der Präsident des Fischerkomitees von Guilvinec am 15. Januar gegen Mittag vom Untergang der „Bugaled-Breizh“ erfährt, hat er gleich das Gefühl, „dass irgendetwas nicht stimmt“. Weil der Trawler „ein gutes Boot“ ist. Weil auch zweieinhalb Meter hohe Wellen „kein Problem für erfahrene Seeleute“ sind. Und weil er weiß, dass in der Unglückszone zeitgleich ein Nato-Manöver stattfindet. U-Boote aus vier Ländern sind daran beteiligt.
Ein Film aus 87 Meter Tiefe bringt zumindest eine Gewissheit: Die „Bugaled-Breizh“ ist gerammt worden, bevor sie sank. Die Aufnahmen, die ein ferngesteuerter Roboter der französischen Marine drei Tage nach dem Unglück macht, zeigen, dass ihr Rumpf auf der Backbordseite zerstört ist. Seltsamerweise ist die Struktur oberhalb der Wasserlinie unversehrt. Sogar die Reling ist intakt.
Wenn die Ermittler nach Unfällen auf hoher See sehr schnell reagieren, finden sie manchmal die Verantwortlichen. Doch in den Weltmeeren verlieren sich Tatspuren schnell. Ein ramponierter Rumpf kann in jedem Hafen übermalt werden. Und ein Matrose, den das schlechte Gewissen plagt, ist schnell entlassen. In den Fischerorten der Bretagne ist das bekannt. Deshalb sind die Angehörigen der Männer von der „Bugaled-Breizh“ erleichtert, als der Pariser Staatssekretär für den Transport, Dominique Bussereau, ihnen im Januar eine „schnelle Aufklärung“ verspricht.
Das Unglücksgebiet ist während des Nato-Manövers „Aswex 04“ intensiv und mit Hightech beobachtet worden – aus der Luft, von Land, zu Wasser und sogar aus der Meerestiefe. Doch die französische Justiz fordert diese militärischen Daten lange nicht an. Für den Staatsanwalt und die beiden Untersuchungsrichter in Quimper, die wegen fahrlässiger Tötung, Fahrerflucht und unterlassener Hilfeleistung ermitteln, steht schon wenige Tage nach dem Unglück fest, dass die „Bugaled-Breizh“ Opfer eines fahrerflüchtigen Frachtschiffes geworden ist. Für besonders verdächtig hält der Staatsanwalt die philippinische „Seattle Trader“.
In den folgenden Wochen spricht er von „rund 20“ weiteren Frachtschiffen aus aller Welt, die zum Unglückszeitpunkt in der Nähe gewesen sind und untersucht werden sollten. Erst drei Monate nach dem Unglück, als die Angehörigen der toten Fischer eine Demonstration „für die Wahrheit“ androhen, erklärt der Staatsanwalt, dass er Anträge auf Verhöre mit den U-Boot-Kommandanten an die beteiligten Nato-Regierungen schicken werde.
Inzwischen sind fünf Monate vergangen. In der Pariser Regierung sitzt längst ein neuer Staatssekretär. In Quimper ist die Justiz kein bisschen vorangekommen. Ihre Mitarbeiter haben in einem chinesischen Hafen Farbe vom Rumpf der „Seattle Trader“ gekratzt. Zwei Monate später hat ein Labor festgestellt, dass die Proben nicht von der gesunkenen „Bugaled-Breizh“ stammen. Auch die Untersuchungen an den anderen Frachtern bringen keine neuen Erkenntnisse zutage. Anfang Juni erklärt der Staatsanwalt vor der Presse: „Die Schwierigkeit in diesem Fall liegt darin, dass wir nichts wissen. Alle Möglichkeiten sind offen.“
Robert Bouguion vom Fischerkomitee erzählt, er wisse schon seit Monaten, dass die philippinische „Seattle Trader“ nicht an dem Unfall beteiligt war. Nicht nur, weil der Frachter zum Unfallzeitpunkt kilometerweit von der „Bugaled-Breizh“ entfernt war und aus der „falschen Richtung“ kam. Sondern vor allem, weil mehrere Dinge unvereinbar mit der Version sind, an der die Justiz monatelang festgehalten hat.
Die Tatsache, dass die „Bugaled-Breizh“ ausschließlich unterhalb ihrer Wasserlinie beschädigt ist, spricht nach Ansicht von Bouguin dagegen, dass ein großes Frachtschiff sie gerammt hat: „An einem kleinen Fischerboot hätte das andere Spuren hinterlassen.“ Außerdem habe keines der beiden Fischerboote aus Guilvinec, die zum Unglücksort geeilt sind, die „Seattle Trader“ bei ihrer angeblichen Fahrerflucht gesehen. „Ein 34 Meter breites und 248 Meter langes Schiff verschwindet nicht so schnell“, sagt Robert Bouguion, „weder vom Horizont noch vom Radarbildschirm.“
Von Anfang an sagt Bouguion: „Es gibt nur zwei Möglichkeiten, entweder es war ein Handelsschiff oder es war ein U-Boot.“ Mit der Zeit halten die 1.000 Fischer von Guilvinec und ihre Angehörigen die zweite Version für immer wahrscheinlicher.
Der Bruder des vermissten zweiten Bordmechanikers, Lkw-Fahrer Rémy Gloaguen, hat für das Vorgehen der Justiz kein Verständnis. „Bei jedem Autounfall mit tödlichen Folgen werden sofort alle Augenzeugen vernommen“, sagt er, „hier aber hat die Justiz zwar einen bretonischen Fischer befragt, der zum Helfen an den Unglücksort geeilt ist. Aber den Kommandanten des niederländischen U-Bootes, der nachweislich als Erster dort war, hat bis heute niemand verhört.“
Angesichts der Gerüchte in den Fischerorten hat die französische Marine schon im Januar einen ungewöhnlichen Schritt unternommen. Sie veröffentlicht den Lageplan aller am Nato-Manöver beteiligten Kriegsschiffe. U-Boote inklusive. Das niederländische „Dolfijn“ ist rund 12 Kilometer vom Unglücksort entfernt eingezeichnet. Als nächstes U-Boot ist das deutsche „U-22“ etwa 60 Kilometer weiter östlich vermerkt. Das britische „Torquay“ und das französische „Rubis“ befinden sich jeweils mehrere hundert Kilometer weit entfernt.
Französische Marine-Verantwortliche halten die U-Boot-These deshalb auch für „hochgradig unwahrscheinlich“. Ein U-Boot hätte bei einer Kollision mit einem Trawler selbst schwere Schäden erlitten und wäre zwangsläufig irgendwo in Reparatur gegangen, erklärt Sylvain Le Berre, Pressesprecher der Marine im Arsenal von Brest. „Früher oder später wäre das an die Öffentlichkeit gekommen.“
Anfang Mai findet sich die niederländische „Dolfijn“ zu Reparaturarbeiten in einem norwegischen Hafen ein. Es ist ihre zweite bekannte Reparatur seit Januar. Die niederländische Marine erklärt aus diesem Anlass: „Wir waren es nicht. Unser U-Boot war zum Unglückszeitpunkt an der Oberfläche. Wir haben bei der Rettung geholfen.“
Zur Beruhigung der Angehörigen der toten Fischer hat das nicht gereicht. Seit Montag dieser Woche herrscht deswegen wieder Betrieb am Unglücksort vor Kap Lizard. Ein Minensuchboot der französischen Marine und ein internationales Bergungsunternehmen holen in diesen Tagen hoch, was von dem versunkenen Trawler übrig ist. Fünfeinhalb Monate lang liegt er nun schon in 87 Meter Tiefe. Ende Juni soll die „Bugaled-Breizh“ in den Militärhafen von Brest geschleppt werden. Rémy Gloaguen hofft, dass bis dahin nicht alle Spuren verwischt sind. Und dass die „Bugaled-Breizh“ vielleicht doch noch das Geheimnis ihres Untergangs preisgibt.