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Archiv-Artikel

Ein und dieselbe Frau

Der aufgeweckte Teenager, der seiner Schwester ähnelt, und die Frau Ende dreißig, aufgedunsen, mit starrem Blick: In ihrem Regiedebüt „Ihr Name ist Sabine“ zeichnet Sandrine Bonnaire das Porträt ihrer autistischen Schwester

Wie kann man autistischen Menschen ein Leben in Würde ermöglichen? Als sich Dustin Hoffman und Tom Cruise Ende der 80er-Jahre im Hollywooddrama „Rain Man“ als behinderter und nichtbehinderter Bruder näherkamen, war zum ersten Mal ein starker Scheinwerfer auf die Probleme von Autisten und ihren Angehörigen gerichtet.

Dass das Thema noch immer virulent ist, lässt sich nun bei der französischen Schauspielerin Sandrine Bonnaire besichtigen. Für ihr Regiedebüt mit dem Dokumentarfilm „Ihr Name ist Sabine“ musste sie die Geschwisterkonstellation weder erfinden noch spielen.

Sabine – das ist Sandrine Bonnaires ein Jahr jüngere, autistische Schwester, von der als Kleinkind niemand ahnte, dass sie einmal für fünf Jahre in einer psychiatrischen Klinik verschwinden würde. Die Altersgenossen hänseln sie als „Sabine, die Idiotin“. Doch selbst als sie Autoaggressionen zeigt und von der Schule genommen wird, scheint ein nahezu „normales“ Leben möglich. Sie kauft sich Bücher für Geografie und Englisch, verreist, fährt Mofa, spielt auf dem Klavier Schubert und Bach. Erst mit dem Tod eines Bruders – sie ist inzwischen Ende 20 – beginnen sich ihre Aggressionen auch gegen die Mutter zu richten.

Es ist ein Drama, wie es in vielen Familien stattfindet: Wohin mit der inzwischen erwachsenen Tochter und Schwester? Nach 14 Tagen stationärer Betreuung im Krankenhaus wird sie ohne Diagnose entlassen. Autismus, eine Wahrnehmungsstörung, die sich vor allem in Kommunikationsproblemen und ritualisiertem Verhalten äußert, kennen die Ärzte nicht. Sandrine holt die Schwester in ihre Nachbarwohnung. Kurz darauf kündigen die beiden professionellen Betreuerinnen entnervt. Allein gelassen, das ist Bonnaires im Film vehement vorgetragene Botschaft, ist die Familie überfordert.

Sabine, der aufgeweckte Teenager, der der später berühmten Schwester ein wenig ähnlich sieht. Sabine, die Frau Ende 30, aufgedunsen, mit starrem Blick, unselbstständig, mal in Panikanfällen schrille Schreie ausstoßend, mal die anderen umarmend wie ein kleines Kind. Langsam, aber dramaturgisch geschickt entwickelt der Film seine Geschichte im Gegenschnitt: Den privaten Videoaufnahmen aus der Vergangenheit und dem lakonischen Text der Off-Kommentatorin Sandrine sind lange Einstellungen, Nahaufnahmen, verwackelte Handkamerabilder aus Sabines Gegenwart in dem betreuten Wohnprojekt, in dem sie heute lebt, gegenübergestellt.

Am Beginn des Films fällt es sogar schwer, zu realisieren, dass die Bilder von damals und heute ein und dieselbe Frau zeigen. Was dazwischenliegt, ist buchstäblich das Dunkel: Als Sandrine Bonnaire von den fünf Jahren Psychiatrie berichtet, von Zwangsjacken, Neuroleptika und den dreißig Kilo, die die Schwester dort zugenommen habe, bleibt die Leinwand schwarz. Der Gestus gebremster Wut und Ohnmacht, der den Film dominiert, weicht hier zornig referierten Fakten.

Schon zuvor hatte eines der sparsam gesetzten, ruhigen Interviews erahnen lassen, welche Wirkung die Medikamente auf Menschen entfalten: Statt ihrer Vitamine habe sie einmal die Tabletten ihres Sohnes eingenommen, berichtet die Mutter eines Mitbewohners. Als sie nach einem Tag Tiefschlaf wieder aufgewacht war, sei sie noch immer nicht in der Lage gewesen, zu erfassen, was etwa im Fernsehen vor sich ging, geschweige denn zu lesen. Im Wohnprojekt bekommt Sabine wenigstens nur noch die Hälfte der einstigen (Über-)Dosis der Klinik verabreicht.

Sandrine Bonnaire liefert ein intensives, sehr persönliches Porträt ihrer Schwester und ihres Umfelds, dessen Stärke es ist, dass sie viel von sich selbst preisgibt. Gezeigt werden nicht nur Bilder geduldiger Zuwendung, wenn die Betreuer mit ihren Schützlingen einen Spaziergang ins Dorf unternehmen und dabei immer wieder Pausen einlegen müssen, wenn sie die immer selben, ritualisierten Fragen der Betreuten beantworten oder Streit am Esstisch schlichten. Die einzige Aufnahme der Gegenwart, in der Sandrine Bonnaire zu sehen ist, zeigt sie, wie sie gegenüber der Schwester die Geduld verliert.

Sein Schmerzzentrum aber erreicht der Film, wenn Bonnaire Gegenwart und Vergangenheit zusammenführt und ihre Schwester mit den Bildern einer gemeinsamen Reise nach New York konfrontiert – noch immer ein Sehnsuchtsort Sabines. Sie bricht in Schluchzen aus, ein tränenloses Weinen, dass einem der Atem stockt. Wenn es ihr zu viel werde, könne sie abschalten, sagt ihr Sandrine. Sie heule vor Freude, antwortet die Schwester.

ROBERT SCHRÖPFER

„Ihr Name ist Sabine“ (OmU). Regie: Sandrine Bonnaire. Frankreich 2007, 85 Min. Ab 29. Januar im FSK-Kino