: Zukunftsmusik in Limburg
Rund um Venlo wird Klassik unters Volk gebracht – Musiker spielen dazu im Kloster, auf dem Bauernhof oder im Frauenknast
AUS VENLO HENK RAIJER
Der Mann hat zur Zeit nur den Fluss im Kopf. „Tanz mit der Maas“ heißt die Komposition, die Nard Reijnders gerade für die Blaskapelle seines Heimatortes erarbeitet. Es dürfte kein gewöhnliches Stück werden, das da zur 125-Jahr-Feier des Musikvereins Broekhuizenvorst erstmals zur Aufführung kommt.
Die Flussbewegung hat Reijnders in sanften Klängen festgehalten, die schrillen Töne als Ausdruck der Agonie, die das Hochwasser vor gut zehn Jahren bei den Flussanrainern im Südosten Hollands hervorrief, sind auch schon im Kasten. Wie die Rede von Königin Beatrix, mit der sie, in Gummistiefeln und ausnahmsweise ohne Hut, den Menschen im Nachbarort Arcen damals Mut zusprach. Was dem Musiker indes noch fehlt, ist das warnende Läuten der Glocken, das er an diesem sonnigen Juni-Tag zur Vesperzeit mit einem Mikro im Garten seines Hauses gegenüber der Dorfkirche einzufangen versucht.
Bewegung ist Reijnders‘ Credo – in der Musik wie im Leben. Und bewegen tut sich in der Heimatregion des Saxophonisten, der 22 Jahre lang mit dem auch in Deutschland populären Barden Herman van Veen auf Tournee war, nach seinem Geschmack viel zu wenig. „Kultur spielt sich hier im Norden der Provinz Limburg, wie im Grunde überall, ausschließlich in Theatern und Musiksälen ab. Das zieht ein immer gleiches Publikum an, lässt die meisten außen vor. Und was dort geboten wird, ist zunehmend flaches Entertainment“, weiß der 52-Jährige aus langjähriger Erfahrung im Musikgeschäft. Kulturmanager hätten keinen Anspruch mehr, sie beugten sich den Zwängen, die ihnen die Unterhaltungsindustrie auferlege.
Und weil Reijnders mit seiner Region verwurzelt ist, die er trotz seiner zahlreichen Engagements auf den Bühnen der Welt nie verließ, kam ihm vor gut zwei Jahren der Gedanke, seine Kontakte im Musikbusiness zu nutzen, um in Noord-Limburg neue Wege zu beschreiten. Es war die Geburtsstunde von „Klassiek op locatie“.
Das Prinzip der Konzertreihe, die im Sommer vergangenen Jahres mit sieben Veranstaltungen startete, lautet, Profis der Spitzenklasse an Orten musizieren zu lassen, die ihrer natürlichen Umgebung, ihres kulturhistorischen Erbes, ihrer Architektur und – nicht zuletzt – ihrer Akustik wegen etwas Besonderes zu bieten haben. Zielgruppen sind sowohl Dorfbewohner wie Touristen, die sich für die Gelegenheit nicht mal in Schale zu werfen brauchen. „Es gibt keinerlei Etikette, im letzten Jahr kamen die Leute zu den Konzerten von Ronald Bräutigam und dem Wiener Klaviertrio mit dem Fahrrad, in Shorts und Sandalen und tranken nach dem Konzert im Freien ein paar Bier mit den Musikern“, schwärmt Nard Reijnders.
Auch mit den Eintrittspreisen habe man mit „Klassiek op locatie“ (Klassik an ausgewählten Orten) die Schwelle bewusst niedrig angesetzt. „Wir wollen ja nicht verdienen“, erklärt der Manager des gemeinnützigen Vereins das Prinzip der mehrwöchigen Konzertreihe an der deutsch-niederländischen Grenze, die am nächsten Sonntag mit einem Konzert im Klostergarten von Steijl seinen diesjährigen Auftakt erlebt (siehe Kasten rechts). „Mit Preisen zwischen 10 und 15 Euro für Konzerte mit Musikern von internationalem Rang liegen wir weit über 50 Prozent unter dem marktüblichen Niveau“, so Reijnders.
Keinerlei Zugeständnisse hingegen macht das fünfköpfige Organisationskomitee, wenn es um musikalische Ansprüche geht. „Die Leute müssen das Gefühl mit nach Hause nehmen, dass sie etwas ganz Besonderes erlebt haben“, erklärt Nard Reijnders. „Von daher engagieren wir lieber einen einzigen Flötisten von Weltrang als vier Musikstudenten vom hiesigen Konservatorium. Wir steigen ganz bewusst weit oben ein, wenn es uns die finanziellen Mittel erlauben.“ Positiver Nebenaspekt dieses Ansatzes sei zudem, dass sowohl potente Sponsoren als auch die Subventionsverwalter der Provinz Limburg mit großen Namen leichter zu ködern seien.
Kompromisse machen die Organisatoren auch in der Frage eines konzertgemäßen Ambientes nicht. So müssen die Kommunen, die sich inzwischen bei „Klassiek op locatie“ mit einem markanten Veranstaltungsort bewerben, garantieren, dass nichts die für ein klassisches Konzert im Freien erforderliche Ruhe stört. „Da sind wir ganz rigide. Sobald wir bei den Vorgesprächen merken, dass ein Bürgermeister etwa einem parallel stattfindenden Grillfest in unmittelbarer Umgebung keine Auflagen für die Zeit des Konzerts machen will, ist der Termin dort vom Tisch“, so Reijnders. „Wir haben im letzten Jahr feststellen können, wie die Konzertatmosphäre Leute, die Kultur sonst eher meiden, geradezu diszipliniert, wie sie aufs Reden, Rauchen, Trinken verzichten und bis zur letzten Minute aufmerksam zuhören.“
Eine Herausforderung besonderer Art war im vergangenen August das Konzert im Frauenknast von Evertsoord. „Klassiek op locatie“ hatte für dieses Event das musikalische Spektrum der Reihe erweitert, das Ensemble Volharding erfreute Besucher und Gefangene gleichermaßen mit einem anspruchsvollen Mix aus Klassik, Jazz und Poprhythmen. Sowohl die Besucher als auch die zahlreich erschienenen Vertreter der Provinzregierung sollten dabei wohl nicht übersehen, wie hoch Mauern und Zäune in einem solch „markanten“ Veranstaltungsort sind.
Ähnlich sozial motiviert ist in diesem Jahr die Idee, eine regionale Zeitarbeitsfirma, die sonst wochentags polnische Arbeiter an ihren Arbeitsplatz karrt, aufzufordern, diese im Jahr der EU-Erweiterung an Feiertagen kostenlos zu den Konzerten in der Umgebung zu bringen – und dem Unternehmen bei der Gelegenheit sogleich das Angebot zu unterbreiten, sich als Sponsor von „Klassiek op locatie“ einen Namen zu machen.
Im verschlafenen Ortskern von Broekhuizenvorst hallen die Glocken nach, Nard Reijnders packt seine „Abhöranlage“ in den Schuppen neben dem Wohnhaus. Am Abend will er mit den Bläsern des Musikvereins Teile von „Tanz mit der Maas“ proben. „Musik muss in Bewegung bleiben“, sinniert der erdige Komponist-Arrangeur mit dem üppigen, allmählich ergrauenden Lockenkopf bei einem Glas Rosé. „Auch bei ‚Klassiek op locatie‘ dürfen wir nicht bei Mozart und Brahms hängen bleiben, es muss Raum geben für Straßenmusiker, für Jazz oder gar Neue Musik, für Strawinsky, Nono oder Ligeti“, meint Reijnders. „Was die Zuhörer anbelangt, ist das alles nur eine Frage der Erziehung.“
Der Pädagoge in ihm hat da auch schon vorgesorgt: Mit dem Nederlands Blazers Ensemble, 2003 schon dabei und auch 2004 mit von der Partie, wurden für die nächsten vier Jahre Konzerte vereinbart. „Und jedes Mal soll es ein wenig moderner, abstrakter werden. Ich bin mir sicher, dass die Leute es dem Ensemble abnehmen werden, weil sie aus der Vergangenheit wissen: Die spielen nicht nur schräg daher, sondern haben echt was drauf.“ Sein Traum: ein Mal pro Saison einen Komponisten zu gewinnen, der eigens für einen ausgesuchten Aufführungsort von „Klassiek op locatie“ ein Stück schreibt, das dann dort uraufgeführt wird. „Zukunftsmusik“, gesteht Reijnders mit einem um Nachsicht bittenden Lächeln.