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Archiv-Artikel

Marihuana-Eigenanbau bleibt ungeahndet

Schwerkranker nutzte Cannabis als Medizin. Amtsrichter spricht ihn frei und fordert eine dringende Bereinigung der derzeitigen Rechtslage. Das hat die rot-grüne Bundesregierung schon lange versprochen – ohne Folgen

Für Patienten gibt es nach wie vor keine legale Möglichkeit natürliches Cannabis als Medizin nutzen zu können. In der Koalitionsvereinbarung der rot-grünen Bundesregierung heißt es zwar: Die Verschreibungsmöglichkeiten von Cannabis sollten in wissenschaftlich anerkannten Fällen weiterentwickelt werden. Passiert ist aber nichts.

Wenigstens ein paar mutige Richter haben die Kranken auf ihrer Seite: Zum zweiten Mal binnen eines halben Jahres hat ein Berliner Amtsgericht jetzt einen Patienten freigesprochen, der zur Linderung seiner Beschwerden Cannabis angebaut hatte. Im jüngsten Fall hatte die Polizei in der Wohnung des Angeklagten sogar rund ein Kilo selbst angebautes Marihuana beschlagnahmt, wobei der Gesamtwirkstoffgehalt von 22,67 Gramm Tetrahydrocannabinol (THC) relativ gering war.

Die Tat sei durch einen Notstand des Angeklagten gerechtfertigt, so die Feststellung von Amtsrichter Roger Balschun in seinem Urteil vom 28. April, das erst jetzt in Schriftform öffentlich bekannt geworden ist. Notstand, das sind die vielen schweren Krankheiten, an denen der 42-jährige Angeklagte Paul S. leidet: Aids, Hepatitis C, Leberzirrhose und eine krankhafte Veränderung des Nervensystems. Seine Beschwerden lindert S. mit Cannabis, wobei er die Droge in vielfältiger Form für Sitzbäder, Kompressen, Wickel und Tees nutzt. Der Tee hilft ihm gegen seine Übelkeit und versetzt ihn in die Lage, Medikamente und feste Nahrung schlucken zu können, ohne gleich erbrechen zu müssen.

Die Beschwerden seien so gravierend, dass sie eine Gefahr für den Angeklagten darstellen, so Richter Balschun. Das einzige in Deutschland erhältliche Medikament „Dronabinol“, das THC in synthetischer Form enthält, komme wegen seiner Nebenwirkungen für S. nicht in Betracht. Außerdem sei die benötigte Monatsdosis – Kostenpunkt rund 600 Euro – zu teuer, denn die Kasse zahlt nicht.

Am Ende seines Urteils wendet sich der Richter mit deutlichen Worten an die Politik: Die derzeitige Rechtssituation sei äußerst unbefriedigend und bedürfe einer dringenden Bereinigung. Der Strafprozess sei nicht der geeinigte Ort, um den Patienten zu einer legalen Lösung ihrer Probleme zu verhelfen. Im Klartext: Gefordert ist das Bundesgesundheitsministerium, genauer gesagt: die Bundesopiumstelle. Dort haben inzwischen über 1.000 Schwerkranke eine Ausnahmegenehmigung zur Nutzung von Cannabis zu medizinischen Zwecken beantragt. Bewilligt wurde bislang keine einzige.

Ähnlich wie Amtsrichter Balschun hatte in Berlin unlängst sein Kollege Michael Zimmermann im Fall eines Morbus-Crohn-Kranken geurteilt. Zimmermanns Urteil ist inzwischen rechtskräftig. Gegen das Urteil von Balschun hat die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt.

PLUTONIA PLARRE