: Fremdwort 35-Stunden-Woche
BerlinerInnen können sich kaum über die Arbeitszeit-Debatte aufregen. Die meisten arbeiten eh länger als 35 Stunden pro Woche. Gewerkschafter sind sich sicher: Längere Schichten vernichten Jobs
VON RICHARD ROTHER
Die unbezahlte Mehrarbeit in zwei westdeutschen Werken des Elektronikkonzerns Siemens, die unter dem Stichwort „Rückkehr zur 40-Stunden-Woche“ debattiert wird, stößt bei Berliner Beschäftigtenvertretern auf Ablehnung. Einzelfall, nicht übertragbar, unsinnig – so der Tenor der Reaktionen. Allerdings wird in den allermeisten Bereichen in Berlin ohnehin länger als 35 Stunden pro Woche gearbeitet. Oder die Verkürzung der Arbeitszeit auf annähernd 35 Stunden erfolgte wie im öffentlichen Dienst ohne Lohnausgleich und auf ausdrücklichen Wunsch der Arbeitgeber – um bei den Lohnkosten zu sparen.
Die klassische 35-Stunden-Woche – von den Gewerkschaften in den 80er-Jahren mit vollem Lohnausgleich durchgesetzt, um den allgemeinen Produktivitätsfortschritt in mehr Freizeit für die Beschäftigten und so mehr Beschäftigung insgesamt umzusetzen – gilt in Berlin ohnehin nur in der Metall- und Elektro-Industrie im Westteil der Stadt. Im Ostteil werden weiterhin 38 Stunden pro Woche gearbeitet, nachdem der Streik für die Angleichung gescheitert war. Akut werde eine Diskussion wie bei Siemens nicht geführt, so IG-Metall-Sprecher Klaus Wosilowsky. „Aber das Thema wird uns begleiten.“ Rund 65.000 Menschen arbeiten in der Branche in Berlin.
In der Baubranche werden – tariflich – 39 Stunden pro Woche gearbeitet. Die Unternehmer forderten gestern vor Beginn der Tarifverhandlung die Erhöhung der Arbeitszeit auf 42 Stunden pro Woche. Allerdings sind in der Branche vor allem bei kleinen und nicht tarifgebundenen Unternehmen weit längere Arbeitszeiten, auch ohne Lohnausgleich, gang und gäbe. Dann werden etwa 60 Stunden gearbeitet, aber nur 40 bezahlt.
Schlechte Arbeitsbedingungen herrschen oft auch im Einzelhandel. Im Westteil beträgt die wöchentliche Arbeitszeit 37 Stunden, im Ostteil 38 Stunden. Allerdings ist in der Branche der Anteil an geringfügiger Beschäftigung, ähnlich wie in der Gastronomie, sehr hoch. „Arbeitsplätze werden mit einer Arbeitszeitverlängerung jedenfalls nicht geschaffen“, resümiert Ver.di-Handelsexperte Horst Kasten. Im Gegenteil, rein rechnerisch könnten die Unternehmen ja mit weniger Köpfen die gleiche Arbeitszeit abdecken.
In der Chemie-Industrie werden 37,5 Stunden pro Woche gearbeitet. „Eine Verlängerung kommt für uns nicht in Frage“, sagt der stellvertretende Betriebsratschef des Berliner Pharma-Konzerns Schering, Siegfried Stolz. „Wir überlegen händeringend, wie wir junge Leute, die wir ausgebildet haben, übernehmen können.“ Die Diskussion über längere Arbeitszeiten werde allerdings in Grenzen geführt.
Nach dem jüngsten Tarifkompromiss liegt die wöchentliche Arbeitszeit im öffentlichen Dienst zwischen 33,88 Stunden im Westteil und 36,8 Stunden im Ostteil der Stadt. Die Reduzierung der Arbeitszeit um 8 bis 12 Prozent war bei dem so genannten Solidarpakt mit entsprechenden Lohneinbußen verbunden. Die Beamten müssen 40 Stunden pro Woche ran.
Bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) werden 38,5 Stunden pro Woche gearbeitet, bei der S-Bahn 37 Stunden. In vielen Medien-, Internet- und Dienstleistungsfirmen der Stadt wird häufig mehr als 40 Stunden pro Woche gearbeitet. Sehr lange Arbeitszeiten sind im Wachschutz- und Sicherheitsgewerbe üblich.