Aus Sternchen wird Star

Die 21-jährige Hannah Stockbauer aus Erlangen gewinnt bei der Weltmeisterschaft im Schwimmen in Barcelona als einzige Athletin dreimal Gold in einer Einzeldisziplin

BARCELONA taz ■ Acht Minuten, 23 Sekunden und 66 Hundertstel können verdammt lang werden, wenn man so vor sich hinkrault und den Kopf dabei fast immer unter Wasser hält. Was man so denkt während eines wichtigen 800-Meter-Freistilrennens? „Man spricht sich Mut zu“, sagt Hannah Stockbauer. „Und man denkt über seine Gegner nach.“ Manchmal schaut man sogar nach rechts und ein gehöriger Schreck fährt einem in die Glieder. Dann schüttet der Körper plötzlich so viel Adrenalin aus wie nie zuvor – und man schwimmt die letzte Bahn so schnell wie nie zuvor. Exakt 28,56 Sekunden benötigte Hannah Stockbauer für ihre letzten 50 Meter bei der Schwimm-WM in Barcelona – und als sie im Palau Sant Jordi schließlich aus dem Becken stieg, war die 21-Jährige ein Superstar. Gold über 400 Meter, Gold über 1.500 Meter, Gold über 800 Meter. Drei Einzeltitel hat bei dieser Weltmeisterschaft keine andere Schwimmerin geholt.

Dabei wäre die Titelverteidigung über die 800 Meter am Samstag beinahe schief gegangen. Bei der letzten von 15 Wenden musste Hannah Stockbauer erstaunt feststellen, dass die US-Amerikanerin Diana Munz zwei Bahnen weiter einen kleinen Vorsprung hatte. 54 Hundertstel, um genau zu sein. Und dann waren sie plötzlich wieder da, diese Gedanken. „Hannah“, sagte die Erlangerin unter Wasser zu sich selbst, „das lässt du nicht auf dir sitzen!“ Dann gab sie Vollgas, bis zum Anschlag. „Hinten raus bin ich noch nie so schnell geschwommen“, sagte sie später – und kommentierte die eigenen Tat mit jenem Wort, das ihr in dieser Woche schon dreimal über die Lippen kam: „Wahnsinn!“

Dreimal Gold in Barcelona, fünf Weltmeistertitel insgesamt – und was kommt jetzt? „Ich habe gehört, dass in Erlangen die Hölle los ist“, sagte die Schwimmerin. Dass der Stadtrat überlegt, einer Schwimmhalle ihren Namen zu verleihen, kommentiert sie mit einem Lächeln. Weil sie mit so viel Ehre irgendwie gar nichts anfangen kann. Und überhaupt: Hannah Stockbauer Superstar? Den spanischen Sonntagszeitungen war der dritte Sieg im dritten Finale nicht einmal eine größere Schlagzeile wert. „Ihr fehlt das Charisma“, mäkelte La Vanguardia, eines der großen Blätter Barcelonas. Eine Einschätzung, der der deutsche Teamchef widersprach. „Das war eine Weltmeisterschaft der ganz großen Namen“, sagte Ralf Beckmann. Dann zählte er Ian Thorpe, Michael Phelps und Alexander Popow, nicht nur wegen seiner beiden WM-Titel über 50 und 100 m Freistil die „herausragendste Figur des Weltschwimmsports“, auf – und Hannah Stockbauer. „Sie hat Unwahrscheinliches geleistet“, sagte Beckmann. Was rein sportlich betrachtet durchaus korrekt ist. Vom Medienhype, der um „Zar“ Popow oder das neue Schwimm-Wunderkind Phelps, über 100 m Schmetterling allerdings von dessen Landsmann Ian Crocker geschlagen, entstanden ist, kann Hannah Stockbauer aber nur träumen. Oder auch nicht.

Wahrscheinlicher ist, das sich die bescheidene junge Frau aus Erlangen noch gar nicht so viel Gedanken darüber gemacht hat, ob sie überhaupt ein Superstar sein möchte. Denn außer dem Schwimmen hatte die 21-Jährige in den vergangenen Monaten nicht sehr viel im Kopf. Ein konsequenter Weg, nachdem sie nach den beiden Titeln von Fukuoka 2001 ihr blaues Wunder erlebt hatte und hemmungslos herumgereicht worden war – mehr Sternchen denn Star. So etwas sollte nicht mehr vorkommen, weshalb Trainer Roland Böller professionelles Training und professionelle Beratung verordnete. Stockbauer, die seit dem Winter 3.000 Trainingskilometer hinter sich gebracht hatte, hat in Barcelona ihre Pflicht erfüllt, jetzt beginnt die Arbeit der Marketingagentur und Medienberater. Die Schwimmerin selbst hat vor, sich in diesem Jahr „auf jeden Fall“ weiter aufs Schwimmen zu konzentrieren. „Ich habe schließlich aus den Erfahrungen nach Fukuoka gelernt“, sagt sie.

Dass ihre Gedanken gerade in der Olympiastadt Barcelona schon ein Stückchen weiter fliegen, ist kein Wunder. „Nach diesen Ergebnissen kann ich auch nächstes Jahr eine Medaille in Angriff nehmen“, sagte Hannah Stockbauer. Und dachte dabei an die Spiele 2004 in Athen. Weil die 1.500 Meter nicht im olympischen Programm sind, wird sich die Freistilspezialisten dann auch die 200 Meter vornehmen. Und damit jene Strecke, über die Franziska van Almsick in Athen endlich ihre heiß ersehnte Goldmedaille gewinnen möchte. Spannende Aussichten, denn die Berlinerin, die die WM wegen Olympia abgesagt hatte, hat den Superstarstatus ja bereits auf Lebzeiten sicher. „Ich bin ganz froh, dass Franzi nächstes Jahr mitfährt, dann kriegt sie den ganzen Druck ab“, sagte Hannah Stockbauer. Wissend, dass sie in Athen sowieso wieder im Schatten der Diva kraulen wird.

JÜRGEN ROOS