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Archiv-Artikel

Unzumutbare Bilder

Das Maß dessen, was die arabische Bevölkerung an Enthauptungsvideos ertragen kann, scheint voll. Auch der Fernsehsender al-Dschasira denkt um

VON JULIA GERLACH

„Al-Dschasira ist zu einem Videoband gekommen …“. Wenn die Nachrichtenmoderatoren des Satellitensenders in Katar mit dieser Formulierung ihre Sendung beginnen, dann läuft vielen Zuschauern ein kalter Schauer über den Rücken. Welche selbst ernannte Dschihad-Gruppe hat jetzt wieder Geiseln genommen? Oder wurden womöglich erneut Ausländer geköpft? Am Montag gab es wieder ein solches Videoband: Der US-Soldat Keith Maupin wurde vor laufender Kamera ermordet. Allerdings zeigte der Sender nur ein Bild des entsetzten Soldaten kurz vor seinem Tod. Weitere „Bilder wollen wir unseren Zuschauern nicht zumuten“, hieß es. Auch diese Formulierung ist in letzter Zeit oft zu hören.

Das liegt auch an den neuen Sender-Richtlinien. Ahmed Scheich, der neue Chefredakteur von al-Dschasira erklärte kürzlich, dass der Sender in Zukunft auf allzu brutale Szenen verzichten werde. Seit Beginn des Krieges im Irak hatte nicht nur die Gewalt, sondern auch deren Abbild im TV mit den Enthüllungen über die Praktiken im Gefängnis von Abu Ghraib und den Enthauptungen von ausländischen Geiseln durch Al-Qaida-nahe Gruppen einen Höhepunkt erreicht: Immer blutiger, immer brutaler und immer exklusiver. Wollte al-Dschasira eine Videobotschaft nicht senden, wandten sich die Widerstandskämpfer und Terroristen an al-Arabia.

Kein Ultimatum

Damit soll jetzt Schluss sein: „Wir orientieren uns am internationalen Fernsehstandard“, sagt Ahmed Scheich. Das Maß dessen, was Zuschauer ertragen können, scheint offenbar überschritten.

So zeigte al-Dschasira am Dienstag ein erstaunliches neues Video. Es stammte wieder von der Gruppe Tawhid und Dschihad, die Abu Mussab al-Sarkawi nahe stehen soll. Diesmal verlas der vermummte Sprecher jedoch kein Ultimatum. Er verkündete die Freilassung dreier Geiseln. Die türkischen Gefangenen der Gruppe hätten sich einsichtig gezeigt und versprochen, in Zukunft nicht mehr mit den Ungläubigen zusammenzuarbeiten. Zudem habe sich das türkische Volk mit seinen Demonstrationen gegen den Nato-Gipfel in Istanbul von der Politik der USA distanziert.

Erfolglose Rettungsaktion

Vielleicht waren das tatsächlich die Gründe. Vielleicht war es aber auch die Einsicht der Entführer, dass sie mit einer weiteren Enthauptung, noch dazu von muslimischen Zivilisten, ihre Sympathien in der Bevölkerung verspielen würden. Die gleiche Gruppe hatte in der vergangenen Woche Kim Sun Il gekidnappt. Die flehende Botschaft des angstzitternden Südkoreaners hat sich den Al-Dschasira-Zuschauern tief ins Gedächtnis gebrannt: „Ich will nicht sterben“, hatte er geschrien. In den folgenden Tagen hatte der Sender eine Art Rettungsaktion gestartet: Ein Reporter berichtete aus Seoul. Er zeigte Soldaten der Armee beim Gebet in der Moschee. Sie seien nach ihrem Einsatz im Irak zum Islam übergetreten. Südkoreanische Politiker wandten sich per Live-Schaltung an die Entführer. Es half nichts. Es gab das nächste Videoband.

Die Bilder der Köpfungen seien Spiegel der sinnentleerten und gewaltgefüllten Zeit, in der sich die arabische Welt befinde, schreibt Hasem Saghieh in al-Hayat. Seine Kollegin, die USA-Korrespondentin der Zeitung Raghida Dergham, sieht die Entwicklungen positiver: „Es gibt einen kleinen Hoffnungsschimmer, dass sich die Menschen weltweit gegen den Radikalismus auflehnen.“ Das amerikanische Volk sei zum ersten Mal mehrheitlich gegen den Krieg im Irak, und die arabische Bevölkerung werde sich hoffentlich endlich von islamischen Radikalen und insbesondere von den Enthauptungen distanzieren.

Auch der ägyptische Politologe Dia Raschwan sieht Anzeichen für einen Stimmungsumschwung: „Diese Brutalität, das geht den Menschen einfach zu weit“, kommentierte er, als er nach Bekanntgabe der Hinrichtung des US-Geschäftsmanns Paul Johnson in Saudi-Arabien vor knapp zwei Wochen beim Sender al-Arabia zu Gast war.

Furcht ums Ansehen

Bisher hätten die Terroristen verstanden, sich als eine Art brutaler Arm des weitgehend als legitim angesehenen Widerstands darzustellen, für die Befreiung der arabischen Welt von Besatzung und Diktatur. „Doch die Menschen fürchten jetzt um das Ansehen des Islam“, beschreibt Dia Raschwan. Köpfungen im Namen der Religion, das geht einfach zu weit, und die Bilder möchte auch niemand mehr zeigen.

Vielleicht war die Einsicht der Entführer in diese Entwicklung die Rettung für die drei türkischen Geiseln im Irak. Vielleicht.