Urteile bringen keine letzte Klarheit

Der Prozess gegen 17 Erwachsene im nordfranzösischen Saint-Omer, die wegen Misshandlungen und Vergewaltigungen von Kindern angeklagt worden waren, endet mit hohen Haftstrafen, sieben Freisprüchen und vielen offen gebliebenen Fragen

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

Die Geschworenen am nordfranzösischen Gericht von Saint-Omer haben sich schwer getan. Am Ende von neun Wochen Verhandlungen in einem der windungsreichsten Prozesse wegen sexueller Gewalt zogen sie sich in ein hermetisch abgeriegeltes Zimmer zurück und debattierten bis tief in die Nacht. Erst um zwei Uhr morgens standen ihre Entscheidungen fest: Wegen Vergewaltigung und Zuhälterei gegen Kinder verurteilten sie zehn Angeklagte zu Strafen von bis zu 20 Jahren Gefängnis. Die sieben anderen Angeklagten sprachen sie von jedem Verdacht frei. Alle waren zuvor beschuldigt worden, an Kindesmisshandlungen in einer Sozialsiedlung in Outreau, einer Vorstadt von Boulogne-sur-Mer, beteiligt gewesen zu sein. Fast alle hatten vor dem Prozess lange in Haft gesessen.

Im Laufe des Prozesses, bei dem 17 Erwachsene anklagt waren, 18 Kindern Gewalt angetan zu haben, brachte jeder neue Verhandlungstag neue, widersprüchliche Enthüllungen. Bis zu Prozessbeginn war die französische Justiz und mit ihr die Öffentlichkeit davon ausgegangen, dass die Angeklagten an einem „internationalen Pädophilennetz“ beteiligt waren. Dass sie vielfach die vier Söhne des Ehepaars Myriam und Thierry Delay und zahlreiche Kinder aus der Nachbarschaft vergewaltigt hätten. Dass sie dabei mit brutaler Gewalt vorgegangen seien. Und dass filmische Aufnahmen der Vergewaltigungen im benachbarten Belgien in den Pornohandel gekommen seien.

So hatten es die kleinen Opfer erzählt. Und so hatten es Myriam Delay, Mutter der vier Söhne, und ihre Nachbarin Aurélie Grenon bestätigt. Durch ihre Anschuldigungen gerieten erst zahlreiche Bewohner der Sozialsiedlung ins Visier der Justiz. Dann auch Honoratioren aus der Umgebung: ein Taxifahrer, ein Gerichtsvollzieher, eine Bäckerin …

Die meisten von ihnen bestritten jede Tatbeteiligung. Manche kannten die Familie Delay und ihre Kinder kaum. Doch erst nachdem sie monate- und jahrelang in Untersuchungshaft gesessen hatten, nachdem ihnen das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen worden war, nachdem sie ihre Arbeit verloren hatten, und nachdem ihre Namen und Bilder durch sämtliche französischen Medien gegangen waren, stellte sich in den vergangenen Wochen bei Gericht heraus, dass sie tatsächlich unschuldig waren. Angesichts immer größerer Zweifel kamen mehrere Angeklagte im Mai während des Prozesses auf freien Fuß. Zu dem Zeitpunkt war einer der Angeklagten bereits in seiner Gefängniszelle gestorben.

Vor allem die Mutter Delay zog vor Gericht immer mehr Vorwürfe zurück. Auch zahlreiche Kinder konnten sich vor Gericht nicht mehr an die Täter erinnern.

Die Urteile bestätigen, dass in Outreau Inzest und Gewalt gegen Kinder stattgefunden haben. Aber auch, dass es kein „internationales Pädophilennetz“ gegeben hat. Die Urteile räumen jedoch nicht alle Zweifel aus. Abgesehen von den Eltern Delay, die 20 und 15 Jahre bekamen, und einem Nachbarpaar bestreiten die Verurteilten ihre Schuld. Auch Arbeiterpriester Dominique Wiel, der gestern 7 Jahre bekam und in Berufung gehen will.

Auf die französische Justiz kommen jetzt Schadenersatzforderungen von den zu Unrecht Inhaftierten zu. Der Untersuchungsrichter, der grundsätzlich zulasten der Beschuldigten ermittelte, arbeitet heute in der Anti-Terror-Abteilung in Paris. Er genießt Personenschutz.

Justizminister Dominique Perben erklärte gestern sein „Mitgefühl“ und sein „Bedauern“ gegenüber den zu Unrecht Inhaftierten. Ein Untersuchungsausschuss mit Psychologen, Anwälten, Richtern und anderen Experten soll in seinem Auftrag klären, wer alles in der Affaire Outreau versagt hat.