: Der Überlebemann
von WALTRAUD SCHWAB
Was der alte Mann, der da die Tür zu seinem Bungalow im Grunewald öffnet, alles sein soll: „Tycoon“, „Filmfürst“, „Immobilienhai“, „Partylöwe“, „Traumfabrikant“. Nichts von all dem gilt in diesem Moment, denn Artur Brauner steht im Unterhemd da. Weißer Feinripp. Eine goldene Kette versteckt sich hinter den Trägern. „Durch den Garten auf die Terrasse“, bittet er und verschwindet wieder hinter der Tür. Entlang des mit Steinplatten gepflasterten Weges dorthin sind die Dreiräder, Plastikautos und Traktoren seiner Enkelkinder geparkt.
Es ist heiß. Fast 30 Grad. Brauner zieht sich im Haus Hemd und Jackett über. Er schwitzt, kaum dass er seinen Fuß auf die Terrasse setzt. „Viel zu warm in der Jacke“, meint er. Trotzdem posiert er kurz danach auf seinem beige-rot gestreiften Sofa für den Fotografen. „Hier habe ich schon mit Kirk Douglas gesessen. Mit Omar Sharif, Romy Schneider, Lilli Palmer.“ Auf dem Rauchglastisch, auf dem zwei silberne Kerzenleuchter stehen, haben sie ihre Gläser abgestellt.
Über 250 Filme hat der 84-jährige Produzent gemacht. Er hat die Filmindustrie nach dem Krieg in Deutschland wieder mit aufgebaut. In einer ehemaligen Munitionsfabrik in Spandau hat er seine Studios eingerichtet. „Aus einer Todesfabrik habe ich eine Traumfabrik gemacht.“ Das sagt er als Holocaustüberlebender. „Mit meinen Händen habe ich 1.200 Säcke mit Schutt rausgeschleppt“, erzählt er. „In einer Halle war ein Bassin mit Gift. Wir mussten es mit Gasmasken leeren, um die Traumhallen aufzubauen.“ Harte Symbolik.
Am 1. August 1918 wird Brauner in Łódź geboren. Ältester Sohn eines Holzhändlers. Schon früh gilt seine Leidenschaft dem Kino. Er versucht sich als Dokumentarfilmer. Der Überfall der Deutschen auf Polen 1939 unterbricht die Karriere. Brauner, seine Eltern und Geschwister lassen sich Judenstern und Ghetto nicht aufzwingen. Sie tauchen unter und überleben in den polnischen Wäldern. Nicht so 49 Verwandte von ihm. Sie kommen in Konzentrationslagern und faschistischen Pogromen um.
Über diesen Teil seines Lebens erzählt Brauner wenig. Da ist er Geschäftsmann. Er hat seine 518 Seiten langen Erinnerungen gerade einem Berliner Verlag verkauft. Bis sie rauskommen, wird sich Kolportiertes mit Wahrem vermischen. Kommt noch dazu, dass Brauner seine Erinnerungen sowieso nicht loswird, auch wenn er sie verkauft. „Jede Nacht sehe ich die Geschehnisse, die schrecklichen Situationen, auch die letzten Stunden der Opfer vor mir“, sagt er.
Als 27-jähriger polnischer Jude kommt Brauner nach dem Krieg nach Berlin. Warum ausgerechnet hierher? Er will den Film „Morituri“ drehen. „Das war für mich ein Gelübde. Wenn ich überlebe, dann muss ich die Opfer lebendig machen.“ Nur in Berlin sei das möglich gewesen. Er redet von Alliierten und Genehmigungen, die er einholen muss, und vom sowjetischen Sektor. Denn Morituri – „Wir, die wir sterben werden“ – soll unbedingt in osteuropäischen Wäldern gefilmt werden. „In Bayern, da sind ganz andere Wälder.“ 1948 ist der Film, der biografische Züge Brauners haben soll, fertig und fällt beim deutschen, nicht beim internationalen, Kinopublikum durch. „Die alten Nazis haben die Kinos gestürmt. Die haben die Scheiben eingeschlagen, die Vorführungen gestört. Die Kinobesitzer haben den Film abgesetzt“, sagt Brauner.
In „Morituri“ flüchtet eine Handvoll Männer aus einem KZ und übersteht den Krieg in einem Waldlager in Polen, in dem sich jüdische Flüchtlinge versteckt halten. Hunger und Elend werden gezeigt. Viel mehr im Vordergrund jedoch steht das ständige Ringen der Gestrandeten um ihr moralisches Überleben als Menschen. Als einige der Waldlagerbewohner einen Wehrmachtssoldaten, den sie gefangen nehmen konnten, töten wollen, halten sie vorher über ihn Gericht. Die Idee von „Auge um Auge“ wird verworfen. In „Morituri“ geht die Hoffnung auf eine Zukunft für die Gestrandeten, die nach faschistischer Denkweise nicht lebenswert waren, in Erfüllung. Wahrscheinlich ist es das, was das deutsche Publikum 1948 nicht ertragen konnte. Vergessen ist angesagt. Ablenkung. Leichte Muse.
Die liefert Artur Brauner nach dem Misserfolg mit „Morituri“ in den Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren. Aus Kalkül? Aus Trotz, weil die Deutschen sein Vermächtnis abgelehnt haben? Brauner will die Frage nicht verstehen. „Ich war verschuldet. Ich musste versuchen, Filme zu drehen, die an der Kinokasse Geld bringen.“ Jedenfalls wird in seinen Studios heile Welt und Happy End am Fließband gedreht. „Sündige Grenze“, „Man lebt nur einmal“, „Ein Mann muss nicht immer schön sein“, um einige der Titel zu nennen. Dazu gab es Karl-May-Filme, aber auch Literaturverfilmungen wie „Die Ratten“.
Mit seiner Produktionsfirma holt Brauner viele der emigrierten Filmgrößen, darunter Max Reinhardt, Robert Siodmak, Fritz Lang zurück nach Deutschland. Ein Verdienst, für das es keine Orden gibt. Wohl aber verdient Brauner in dieser Zeit sehr viel Geld. Er kauft Immobilien, gilt nicht als zimperlich seinen Mietern gegenüber. „Froh wär ich, wenn ich 95 Prozent der Immobilien nicht hätte. Verursachen nur Kosten.“ Der halbe Kurfürstendamm soll ihm heute gehören. „Ich mache keine Halbheiten.“ Okay, der ganzen Ku’damm. „Alles Legende“, wiegelt er ab. Wie dem auch sei: Nach Auskunft des Manager-Magazins ist Brauner auf Platz 100 auf der Liste der reichsten Deutschen. „Alles relativ. Reich bin ich, weil ich eine glückliche Familie habe und einen faszinierenden Beruf. Vielleicht ist ein Physiker, der das Universum erforscht, aber noch glücklicher, noch reicher“, meint er.
Das Aufkommen des Fernsehens macht der Filmindustrie schwer zu schaffen. Nicht ohne Stolz verkündet Brauner, dass seine Produktionsfirma „CCC“ in Berlin dennoch als einzige unter 119 bis heute überlebt habe. Anfang der 80er-Jahre wendet sich der Produzent erneut der Zeit des Faschismus zu. Fast zwei Dutzend Filme zum Thema sind bisher entstanden. Solche über die Geschichte der Weißen Rose und des 20. Juli, über den „Hitlerjungen Salomon“ und das Leben der Malerin Charlotte Salomons, die 26-jährig in Auschwitz stirbt. „Ich biete der Bundesrepublik ein enormes Alibi, indem ich Filme gemacht habe, die sich um die Opfer der Nazityrannei drehen.“ Verstanden wird das nicht. Einige dieser Filme sind bis heute nicht im Verleih.
„Hitlerjunge Salomon“ hat, da ist sich die internationale Kritik einig, große Chancen, 1992 den Auslands-Oscar zu kriegen. Die deutsche Jury reicht ihn jedoch nicht ein. „Lieber wurde weiter auf den zweiten Oscar für die Bundesrepublik gewartet, als dass ein Holocaustthema diese höchste Auszeichnung der Branche erhält.“ Brauner ist gekränkt. „Ein schlimmes Zeichen. Ich habe gehofft, dass die Sünden der Vergangenheit realisiert werden“, sagt er. Dennoch macht er weiter, arbeitet, wie er sagt, 17 Stunden am Tag. Er muss den Opfern Denkmäler setzen. Denn „je älter ich werde, desto plastischer sind die Erinnerungen. Ich sehe oft die Gesichter vor mir, als ob ich sie gestern gesehen hätte, die Gesichter, die verschwunden sind, die es nicht mehr gibt“. Fluch des Langzeitgedächtnisses. Um ein Gegengewicht zu schaffen, trainiert er sein Kurzzeitgedächnis. „Ich kann schneller rechnen als ein Computer.“ Er will es beweisen, fordert, abgefragt zu werden. „Was ist 18 mal 18?“ – „324“, antwortet er sofort. „Was ist 19 mal 12?“ – „228.“
Brauners neueste Produktion, die derzeit in den Kinos läuft, heißt „Babij Jar“. Ein Spielfilm, der die Massentötung von 33.771 Juden und Jüdinnen in der Ukraine bei Kiew thematisiert. Zwölf seiner Angehörigen sind damals unter diesen Opfern gewesen. „Ein Offizier hat geschrieben, dass die Erde sich gewölbt hat wie Wellen am Meer von den lebendig begrabenen Kindern“, sagt Brauner erregt. Anders als in seinem Film, in dem der Sohn einer Denunziantin und ein jüdisches Mädchen einer Zukunft entgegengehen, soll in Wirklichkeit nur ein einziger 15-Jähriger, der unter den Toten lag und sich befreien konnte, das Massaker überlebt haben. Es ist Brauners Entscheidung, das Publikum nicht nur mit Grauen zu entlassen, sondern auch mit Hoffnung.
„Babij Jar“ und „Morituri“ werden von den Feuilletonisten als Klammer um Brauners Schaffen beschrieben. Aber der Produzent will weitermachen. Er wird etwas tun, was noch niemand gewagt hat. Einen Spielfilm drehen, der in einem der Waggons, in dem die Menschen wie Vieh in die Vernichtungslager transportiert wurden, spielt. „Vier Tage, vier Nächte, 120 Personen zusammengepfercht, ohne Essen, ohne Trinken, ohne die elementaren Bedürfnisse vollziehen zu können. Mit menschlicher Fantasie kann man sich dieses infernalische Drama nicht vorstellen“, sagt er. Das Schicksal von drei Familien wird er dabei verfolgen. Und wieder gibt es eine Zukunft: Zwei Mädchen werden gerettet, weil sie durch eine weggerissene Planke im Boden aus dem Zug entkommen. Partisanen finden sie.
Auch ein Massaker an 200 Kindern im ukrainischen Poltawa lässt ihn nicht los. Dieser Film müsse noch gemacht werden und jener, den er seiner Enkelin widmet. Er holt ein Foto von ihr. „Tanith heißt sie, ein biblischer Name.“ Wie eine Elfe sieht die Fünfjährige aus. Artur Brauner verehrt die Kleine, liebt sie. Von Kindern kann er nicht verraten werden. So viel zur Zukunft. Dann ist die Zeit um. Er muss zum Hochzeitstag der Ottos. Inhaber des Otto-Katalogs. Die Herrschaften belegen die vorderen Plätze auf der Liste der Reichen. Bei Otto müsse der Maßstab für Reichtum angelegt werden, nicht bei ihm, meint Brauner. Er will ja kein gewöhnlicher Millionär sein. „Kinder, ich muss mich richten, baden, Smoking anziehen. Bei der Hitze.“ Er geht ins Haus, zieht die Glastür zu, dreht sich nicht um.