: Verlierer ohne Vision
Veränderungen im Nahen Osten stehen die Interessen der Regierungen entgegen. Doch auch die islamischen Kräfte müssen endlich selbstkritisch und demokratischer werden
Der Tod ist allgegenwärtig im Nahen Osten. Wenn die gegenwärtige Gewaltspirale ihre Geschwindigkeit beibehält, ist irgendwann vielleicht nicht einmal mehr genug Zeit, die Gestorbenen zu beerdigen. Die US-amerikanische Kriegsmaschinerie in Kombination mit der Propaganda einer gedemütigten Großmacht bedroht das Leben von immer mehr Irakern. Das israelische Militär ignoriert die Proteste aus Europa und der arabischen Welt; das Töten von Zivilisten und die Zerstörung von Häusern gehören längst zum Alltag. Auch friedliche Hinterhöfe und Hochzeitsfeiern in abgelegenen Dörfern sind vor Bombardierungen nicht mehr sicher. Die Situation im Irak und in Palästina ist erschreckend ähnlich. In beiden Fällen muss die Zukunft auf einer Gegenwart aufgebaut werden, die durch Bilder von Leichen geprägt ist. Wenn derartige Verbrechen geschehen können, ohne dass jemand dafür zur Rechenschaft gezogen wird – wie sollen Kriminelle da noch abgeschreckt werden? In solch einer Umgebung wird Verantwortung zum Fremdwort.
Verwirrt und in Panik gelingt es der israelischen Friedensbewegung kaum, die brutale Politik der Scharon-Regierung zu beeinflussen. Und die verzweifelten Palästinenser, die unerträgliche Demütigungen erleiden, haben keine Kampfmittel als den eigenen Körper. Wenn der Tod unausweichlich ist, dann kann man auf die Idee kommen, ihm ins Auge zu blicken – anstatt in Bitterkeit darauf zu warten, dass er einen hinterrücks und ohne Gnade zufällig trifft.
Wir sind nicht nur permanent vom Geruch des Todes umgeben. Auch haben wir ihn stets vor Augen. Dafür sorgen schon die Bilder auf den Fernseh- und PC-Bildschirmen. Der Tod ist präsent, wenn Bilder von Särgen amerikanischer Soldaten gezeigt werden ebenso wie auf den Folterbildern aus dem irakischen Gefängnis. Weil tote Körper sich gleichen und Details nicht zählen, ist das alltägliche Leben immer mehr bestimmt von Furcht, Verzweiflung und Qual – und der Erwartung immer neuer schrecklicher Bilder. In einem solchen Albtraum scheint der Tod der Gewinner – in Riad, Madrid, Damaskus und natürlich dort, wo der Albtraum allgegenwärtig ist: im Irak und in Palästina. Das alles ist ein idealer Nährboden für Leute, die die einzige Perspektive in weiterem Blutvergießen sehen.
Parallel schrumpft der Reformdiskurs immer weiter zusammen. Wie kann die Hoffnung auf Frieden eine Chance haben, wenn die israelische Armee dauernd Gewaltverbrechen begeht, die politische Debatte darniederliegt und Gerechtigkeit stranguliert wird? Gibt es irgendeinen Ausweg aus dieser trostlosen, nihilistischen Situation? Zunehmend wird es schwierig und wirkt manchmal geradezu unbeholfen bis absurd, sich eine Vision eines demokratischen Islam zu Eigen zu machen.
Die drei Kräfte, die für sich in Anspruch nehmen, Reformen zu unterstützen, liefern nicht einmal die Basisvoraussetzungen dafür. Die Regime in der Region wollen Reformen, die ihre korrupten Grundlagen unangetastet lassen. Die nordatlantischen Politiker wollen Veränderungen, die ihre strategischen und ökonomischen Interessen nicht infrage stellen. Und die unterschiedlichen arabischen Parteien – egal ob islamische oder nationalistische – sind weit davon entfernt, eine Zukunftsvision zu haben, die über rein lokale Fragen hinausreicht. Jede dieser drei Kräfte müsste sich selbst reformieren.
Die Regierenden in der arabischen Welt sind eines der größten Hindernisse für Wandel und Fortschritt. Sie sind nicht bereit, ihre Machtbefugnisse oder die Verfügung über den nationalen Wohlstand einschränken zu lassen. Wenn sie den USA zusichern, dass sie deren Kampf gegen den „Terrorismus“ unterstützen, erwarten sie dafür weitere Unterstützung zur Abwehr ihrer Gegner. Gelegentliche Konzessionen wie die Wiederzulassung der kleinen Wasat-Partei in Ägypten, einer nicht repräsentativen Fraktion der Muslimbruderschaft, zielen nur darauf ab, das Volk zu betrügen, Druck aus dem Ausland abzuwehren und die Opposition noch weiter zu spalten.
Demgegenüber steht die Supermacht USA unter realem Reformdruck. Eine Korrektur der politischen Fehler ist der einzige Weg für sie, um die im arabisch-israelischen Konflikt und im Irak verlorene Glaubwürdigkeit wiederzugewinnen.
Doch auch die Kräfte in der arabischen Welt, die eine Teilung der Macht fordern, müssen demokratischer und innovativer werden – und sie müssen zusammenarbeiten. Ihr Ruf nach verantwortlichem Handeln sollte sich auch ans eigene Führungspersonal richten. Selbstkritik ist angesagt. Die Islamisten müssten neue Vorstellungen zum Verhältnis von Privatem und Öffentlichem, von Zivilem und Politischem entwickeln. Bisher haben sie alle diese Bereiche vermischt. Ihre Moralvorstellungen müssen transformiert werden in eine klare Perspektive zivilgesellschaftlicher Tugenden und Freiheiten. Wenn ihnen das nicht gelingt, würde sich strukturell nichts ändern, sollten sie jemals an die Macht kommen.
Die Palästinenser, die so genannte Selbstmordattentate begehen, geben ihrer Verzweiflung Ausdruck. Weniger offensichtlich, aber ähnlich motiviert, verhalten sich zunehmend viele Bürger in anderen Ländern der Region: Sie ziehen sich apathisch aus dem zivilen Leben zurück und fühlen sich heimatlos und befremdet angesichts der Vorwürfe, sie seien demokratieunfähig und für das Scheitern von Entwicklungsplänen verantwortlich. So begründet beispielsweise der ägyptische Präsident regelmäßig das Entwicklungsdefizit seines Landes damit, dass die Bevölkerung wächst. Aus dem Ausland kommt der Vorwurf, die Menschen seien kulturell rückständig und einer Religion ergeben, die Terrorismus fördert. Und die Islamisten werfen ihnen vor, sich zu sehr zu verwestlichen. Kurzum: Die Menschen in der arabischen Welt scheinen in jedem Fall Verlierer zu sein. Umgeben von Bildern des Todes wenden die Menschen der Zukunft den Rücken zu. Die einfachste Art, dem Schmerz zu zu entfliehen, sind Konsum und die Konzentration auf das eigene Wohlergehen.
Keine Demokratie ohne Demokraten, keine Zukunft ohne Reformen und keine Reformen ohne veränderte Kontroll- und Machtverhältnisse. Das ist das Dilemma der arabischen Welt. Nur viel versprechende Zeichen für die Geburt neuer Ideen könnten einen Weg vorwärts weisen. Wenn es den Muslimen gelänge, Brücken zu Linksintellektuellen und Antikriegsgruppen in vielen Ländern der Region und des Westens zu schlagen, könnte das ein Ansatz für einen Ausweg sein. Ein stärker demokratisierter Islam würde aber auch einen sensibleren Umgang der Linksintellektuellen mit dem Islam voraussetzen. Eine westlich-liberale Demokratie mag der Region nicht angemessen sein – wohl aber eine „soziale“. Wenn die Menschen in der arabischen Welt die Stimme sozialer Gerechtigkeit verbunden mit einem fortschrittlichen Islam hören könnten, hätten sie wieder mehr Vertrauen. AHMED ABDALLAH
Übersetzung: Annette Jensen