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Archiv-Artikel

„Gegen Gewaltexzesse helfen Ganztagsschulen“, sagt Christian Pfeiffer

Brutale Überfälle auf Obdachlose verschaffen randständigen Jugendlichen ein Machtgefühl und kurieren Selbstzweifel

taz: Herr Pfeiffer, Anfang dieser Woche wurden fünf Jugendliche verurteilt, die einen Obdachlosen totgeschlagen haben. Im rheinland-pfälzischen Frankenthal hat jetzt der Prozess gegen zwei 18-Jährige begonnen, die ebenfalls einen Obdachlosen getötet haben sollen. Sind das Einzelfälle?

Christian Pfeiffer: Es hat solche Fälle in ganz ähnlichen Konstellationen leider auch früher immer wieder gegeben. Die Tötungsdelikte haben nicht zugenommen, egal von welcher Gruppe und aus welchen Motiven heraus sie verübt wurden. Aber jeder, der sich wieder ereignet, erschüttert uns von neuem.

Welche Erklärung haben Sie für solche völlig enthemmten Gewaltausbrüche?

Die Erklärung findet man, wenn man sich die Biografie und den gegenwärtigen Status der Täter anschaut. Sie sind in aller Regel sozial sehr derangiert lebende, oft arbeitslose oder im schulischen wie beruflichen Leben wenig erfolgreiche Jugendliche. Ihr Leben ist meist von Ohnmacht gekennzeichnet, und sie tendieren dazu, Machtexzesse erleben zu wollen.

Nach oben buckeln, nach unten treten?

Ja, das ist ein Grundmuster, das die Gutachter immer wieder feststellen, wenn sie nachfragen, wie eine derartig hemmungslose Brutalität entsteht. Es ist immer eine Kombination von Faktoren: Man zählt sich zu den Losern in der Gesellschaft, ist durch Alkohol häufig enthemmt und agiert mit mehreren, wobei keiner dem anderen zeigen will, dass er Hemmungen hat. Die Gruppe schafft die Dynamik und den Rahmen, wo das Gewissen ausgeschaltet ist.

Die Gewalt richtet sich gegen die Schwachen. Warum?

Ausländer, Obdachlose oder sonst am Rande der Gesellschaft Stehende werden beschimpft, weil die Aggression gegen solche Menschen einen selber stabilisiert gegen die Zweifel am eigenen Status.

Bis auf einen waren die Täter von Neulußheim gerade mal zwischen 12 und 14 Jahre alt.

Dass auch 12- bis 14-Jährige zu solchen Taten fähig sind, ist nichts Neues. Ein wichtiger Akzent allerdings, der seit zehn Jahren in steigendem Maß eine Rolle spielt, ist die fast tägliche Konfrontation von Kindern und Jugendlichen mit Gewaltexzessen in Form von Filmen und Computerspielen. Es ist zwar nicht so, dass deren Konsum unmittelbar Gewalt erzeugt. Aber es ist ein zusätzliches Element. Wohlgemerkt: Der Haupteffekt dieser stundenlangen visuellen Gewaltexzesse ist zunächst, dass die Schulleistungen der Jungen immer mehr in den Keller gehen und der Abstand zu den Mädchen immer größer wird. Denn Mädchen haben an dieser Medienverwahrlosung kaum Anteil.

In den aktuellen Fällen waren allerdings Mädchen dabei.

Diese Zufallsbeteiligung sagt nicht viel über den generellen Trend aus. Da waren halt welche dabei, weil sie die Freundinnen der Hauptschläger waren. Nach wie vor gilt, dass der in den letzten zehn, fünfzehn Jahre festgestellte Anstieg der Jugendgewalt zu vier Fünfteln den Jungen und nur zu einem Fünftel den Mädchen zuzuschreiben ist. Zudem begehen Jungen die schwereren Taten und werden Mädchen seltener rückfällig.

Welche Rolle spielen die Eltern?

Unsere Forschung zur Biografie der Gewalt und die der Frankfurter Kollegen gibt eine klare Antwort: Junge Gewalttäter sind nahezu durchweg belastet durch schlimmste Kindheitserfahrungen, durch Lieblosigkeit der Eltern, durch Prügel und durch sehr inkonsistentes Elternverhalten. Sie lernen, Emotionen nicht zuzulassen. Diese Panzerung, dieses „Coolwerden“ ist etwas, was in vielen Familien und erst recht später in der Jugendszene systematisch antrainiert wird.

Welche Präventionsmöglichkeiten sehen Sie?

Zum einen sollten wir mehr Kraft darauf verwenden, künftigen Eltern zu erzählen, was wir über die Auswirkungen von falscher Erziehung wissen. In Deutschland gibt es noch verschwindend wenige Elternschulen. In Australien ist das an jeden Kindergarten angedockt. Zum Zweiten muss Kindern die Möglichkeit gegeben werden, sich bei grober Vernachlässigung und Gewalt in der Familie Hilfe zu holen – und zwar anonym und angstfrei. Das wird in Schweden praktiziert, in Deutschland nur ansatzweise. Drittens brauchen wir Angebote, die attraktiver sind, als passiv hinter der Glotze zu hocken und sich Gewaltexzesse anzuschauen. Für mich ist die zentrale Forderung, Ganztagsschulen einzurichten, die vormittags Wissen vermitteln und nachmittags ein differenziertes und ganz breites Programm bieten – mit der Überschrift: Lust am Leben wecken. Ich glaube nicht, dass die Familien das allein hinbekommen.

INTERVIEW: PASCAL BEUCKER